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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Schlehdornbüschen gesäumtwar – auf Großmühlen ankamen; als sie die niedrigen, verkommenen Häuser der Gutsarbeiter betrachtet, die Hunde zur Kenntnis genommen hatten, die mitten auf dem Gutshof mit höllischem Gebell am Drahtzaun ihres Zwingers hochsprangen; als sie das Schloß selbst in Augenschein genommen hatten – ein Kasten, in dem sich lange nichts rührte –, da tat Charlotte abermals den Mund auf und sagte: Meine Lieben, hier sind wir am Arsch der Welt.
    Es war die Wahrheit.

16
    Reiter über den Bodensee.
    Rücksichts-los sein (ohne Sicht zurück) als eine der Überlebensbedingungen; als eine der Voraussetzungen, die Lebende von Über-Lebenden trennt. (H. sagt, im Auto – es ist Sonntag mittag, 11. Juli 71, ihr fahrt in die Stadt G. zurück –: Jetzt habt ihr mir vollkommen die Rücksicht versperrt. Die Jacken im Rückfenster müssen besser verteilt werden. Also fahren wir noch mal bei euch vorbei? – Ja, sagen Lutz und du.)
    Frage aus dem Publikum: Und glauben Sie, daß die Vorgänge, über die Sie schreiben, zu bewältigen sind?
    Antwort: Nein. (Der Tod von sechs Millionen jüdischen, zwanzig Millionen sowjetischen, sechs Millionen polnischen Menschen.)
    Was hat es dann aber für einen Sinn – Zusatzfrage –, immer wieder davon anzufangen?
    (Überlebenssyndrom: Psychisch-physisches Krankheitsbild bei Menschen, die extremen Belastungen ausgesetzt waren. Ausgearbeitet am Beispiel von Patienten, die Jahre ihres Lebens als KZ-Häftlinge oder als Verfolgte verbringen mußten. Hauptsymptome: Schwere anhaltende Depressionen mit zunehmenden Kontaktstörungen, Angst-und Beklemmungszustände, Alpträume, Überlebensschuld, Gedächtnis- und Erinnerungsstörungen, zunehmende Verfolgungsangst.
    Ausspruch des Arztes, der über seine Untersuchungsergebnisse berichtet: Die Welt der Lebenden und die Welt der Überlebenden sind unendlich weit voneinanderentfernt, sie sind durch Licht- oder, richtiger, Schattenjahre getrennt.)
    Wer wollte es wagen, ein Datum festzusetzen, neben dem stünde: bewältigt? (Die Freundin, die als Sechzehnjährige von Theresienstadt nach Auschwitz kam, zwei Jahre später vom »Transport« floh, der den Tod bedeutet hätte: Die Wirklichkeit sei für sie seitdem hinter einem Schleier, der nur manchmal, in seltenen Augenblicken, zerreiße. Sie selbst, obwohl nachts von Alpträumen, tagsüber nicht selten von Verfolgungsangst bedroht, sei sich zugleich seltsam gleichgültig geworden. Der Tod war das für sie Bestimmte; daß sie überlebt habe Zufall. Einem zufälligen Überleben könne man selbst nicht wieder den gleichen Wert beimessen wie einem Leben, das einem nie bestritten worden ist. Schattenjahre.)
    Im August 1945 ging Nelly mit Volkmar Knop, dem dreizehnjährigen Pfarrerssohn, auf dem Friedhof von Bardikow umher, um einen Platz für Herrn Mau zu suchen, der im Sterben lag. Sie fragte den Jungen, ob es ihm nicht komisch sei, einem noch Lebenden den Todesplatz zu bestimmen. Der Junge, blond, blauäugig, hoch aufgeschossen, erwiderte ernst: Nein. Er selbst, zum Beispiel, könne sich vorstellen, daß er unter jener Trauerweide an der Friedhofsmauer gern und ruhig liegen würde. – Er denke also an seinen Tod? – O ja, oft.
    Nelly wußte auf einmal, daß sie lange leben wollte. Der Mensch in ihr, der noch vor drei Monaten aus Verzweiflung hätte sterben mögen, war wie nicht gewesen, das gab es. Aus großer Höhe sah sie sich unten mit dem Jungen gehen, im alten Teil des Friedhofs, wo die Grabsteine einsanken und schief standen und Efeu die Namender Toten überwucherte. Sie dachte, daß irgendwo einmal ein Stein mit ihrem Namen so in die Erde versinken würde. Zum erstenmal empfand sie in ihrem Körper, der in Sekunden zum Tode hin alterte, was Zeit ist. Sie fragte nicht, wie sie die Zeit verbringen würde, die sie von jenem Stein trennte. Genug, daß es sie gab. Sie erstaunte selbst über die Gier auf Leben, die sie in sich fand. Sie lief an der Friedhofsmauer entlang. Der Duft, Volkmar! Riechst du es nicht? – Klar, sagte Volkmar Knop ernst. Heckenrosen.
    Der Horizont um das Dorf Bardikow in Mecklenburg war niedrig, die Apokalyptischen Reiter hielten sich dicht unter seinem Rand. Das Dorf war mit Leuten vollgestopft, die ihre Katastrophe überlebt, und mit solchen, die keine Katastrophe bemerkt hatten. Das steigerte ihre Erbitterung gegeneinander.
    Nelly saß an einem Schreibtisch vor dem Fenster des Bürgermeisteramtes und beobachtete den Kampf der einen gegen die anderen. Sie

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