Kindheitsmuster
aufzeichnen. Nelly fand das Dorf schön. H. sagte später, als ihr es gemeinsam besuchtet, sie sei wahrscheinlich damals der Dorfromantik der Stadtleute erlegen. Daran mochte etwas Wahres sein; aber das Dorf war auch auf eine schwer beschreibbare Weise verändert worden, durch ein paar Zweckbauten der Genossenschaft, die sich auf die industrielle Produktion von Milch und Rindfleisch spezialisiert hat, durch den Abbruch einiger Scheunen, die jetzt überflüssig waren, und durch die neue Zehnklassenschule am Dorfrand. Der Dorfteich gegenüber dem Gasthaus, früher verschlammt, ist ausgebaggert und reguliert, an seinem Rand sind Laubengrundstücke entstanden. Die Grundrißlinien des Dorfes, die Nelly für seine unveränderliche Natur gehalten hat, wurden korrigiert. Zweckmäßig schon, aber schöner haben diese Korrekturen das Dorf nicht gemacht.
Den Alten Friedhof von L. habt ihr gegen elf Uhr verlassen. Von der ehemaligen Friedeberger Chaussee her fahrt ihr wieder in G. ein, als der Gottesdienst in der ehemals katholischen Konkordienkirche beendet ist. Der Name dieser Kirche hätte heute keinen Sinn mehr, da alle Kirchen katholisch sind: Zweckbauten, verwendbar,solange Menschen glauben müssen. Ihr fahrt durch die neu erbaute Innenstadt – schön ist sie nicht, das mußt du zugeben – und fragt euch, warum die Anschauung, daß Menschen sich nicht durch ihren Glauben, sondern durch ihr Wissen leiten lassen sollten, bis jetzt so wenig Schönheit hervorgebracht hat. Ihr findet keine Antwort, weil die Frage falsch gestellt ist. Sie schließt die Art, den Umfang, die Richtung und das Ziel dieses Wissens nicht ein. Lenka beantragt, das Wort »zweckmäßig« so lange durch »menschenmäßig« zu ersetzen, bis niemand mehr den Zweck des Städtebaus – nur mal als Beispiel, sagt sie – nur darin sehe, jedem Einwohner seine Schlafstelle zu sichern. Das wird zu teuer, sagt Lutz, während du denkst: Vorher müßte man dem Menschen neue Zwecke finden, über seine Teilnahme an der Produktion materieller Güter hinaus: Auf einmal würde nichts zu teuer, denkst du, weil Reichtum kein Wort für Geld wäre und weil ein Mensch, der in neuem Sinne reich wäre, sein Herz nicht an ein Auto hängen müßte, um sich als Mensch zu fühlen ...
Das schmink dir mal ab, sagt Bruder Lutz. Das ist reines Wunschdenken, was dir jetzt durch den Kopf geht.
Ihr scheint ein eingespieltes Team zu sein, sagt Lenka. Oder gehörte Gedankenlesen früher zur Grundausbildung?
Lutz sagt: Deine Mutter denkt an eine Welt, in der die Menschen nur jene Bedürfnisse entwickeln, die ihre Entfaltung fördern – seelisch und körperlich, verstehst du?
Lenka verstand. Sogar genau, behauptete sie. Sie denke auch manchmal an eine solche Welt. Was ihr Onkel dagegen einzuwenden habe.
Lutz sagte: Ich? Nicht das geringste. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß die Entwicklung anders läuft: auf die immer vollkommenere Befriedigung von Bedürfnissen, die nicht alle »menschengemäß« sind, mein Fräulein Nichte. Die aber von Menschen als Ersatz für das wirkliche Leben entwickelt werden, das ihnen der Produktionsprozeß, wie er noch ist und sein muß, vorenthält. Und wer seine Hand aus reinem Übermut in diesen Mechanismus steckt, dem wird sie abgerissen, die Hand. Weiter nichts. Denn hier walten harte Gesetze, keine Ermessensfragen.
Vielleicht nicht gleich die ganze Hand, sagst du. Den kleinen Finger reinstecken. Ein paar Überlegungen. Und auch nicht aus Übermut. Bloß, weil die Richtung in Selbstzerstörung enden kann.
Bitte sehr, sagt Lutz. Persönliches Risiko. Im übrigen: Ihr könnt denken, was ihr wollt, ihr seid sowieso »draußen«. Das ist nicht beleidigend gemeint. Aber wo über diese Dinge entschieden wird, kann, was ihr denkt, nicht zur Kenntnis genommen werden. Da reden Fachleute. Seelische Leiden sind da kein Argument.
Wo Lutz recht hatte, hatte er recht.
Warum geht dir jetzt, da du euer Gespräch – den Extrakt vieler Gespräche – aufschreibst, die Feststellung jenes Arztes ehemaliger KZ-Häftlinge durch den Kopf, den seine Patienten gelehrt haben, daß vielen von ihnen ein Überleben nur im Zustand totaler Automatisation möglich war?
Helden? Es wäre besser für uns, es wäre erträglicher, wir könnten uns die Lager als einen Ort vorstellen, an dem aus Opfern unbedingt Helden wurden. Als sei es verächtlich, unter nicht mehr erträglichem Druck zusammenzubrechen.Man müßte, denkst du – schon wieder unrealistisch –, in den Schulen
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