Kindheitsmuster
Nelly, besuchen Sie mich.
Sie wohnte nur zwei Straßen von Nelly entfernt. Du bist die Straße neulich langsam hinuntergefahren, wußtest die Hausnummer noch, zweifeltest dann aber doch, ob du das richtige Haus sahst. Maria Kranhold ist vor langer Zeit in den Westen gegangen.
Es ist Nellys heimlicher Stolz, daß sie in dieser Stadt außer den vierundzwanzig Mädchen aus ihrer Klasse und einem Dutzend Lehrer keinen Menschen kennt und von keinem gekannt wird. Sie übt sich in dem Spiel: fremd, fremder, am fremdesten. Durch eine Mogelei auf dem Wohnungsamt – Herrn Wrunks Rückkehr stehe unmittelbar bevor – kommt sie zu einem schmaleneigenen Zimmer bei der Witwe Sidon, Fritz-Reuter-Straße, und hat endlich die letzte Leine zwischen sich und dem Dorf Bardikow gekappt.
Die Fritz-Reuter-Straße ist von kühner Häßlichkeit, das war Nelly recht. Es war ihr recht, daß sich keine der Mietskasernen von allen anderen in der Straße unterschied. Sie verschwand jedesmal im Torweg ihres Hauses, in dem es stank wie die Pest, wie in einem Versteck. Sie war fasziniert von der vollkommenen Gleichgültigkeit der Witwe Sidon gegen alles im Leben, die Tatsache ausgenommen, daß ihr Sohn Heiner, der sechzehn war, wie ein Rabe in ihrer Speisekammer stahl – ohne Rücksicht darauf, ob die Mutter verhungern mochte oder nicht. Nelly hörte die Witwe Sidon in ihrer eiskalten Stube nebenan mit dem Ausklopfer hinter ihrem Sohn her um den Tisch jagen. Der lief, von Lachanfällen geschüttelt, zum Schein mit, bis es ihm zuviel wurde, er der Mutter den Ausklopfer aus der Hand wand und ihn aus dem Fenster schmiß, fünf Stockwerke tief, auf die Fritz-Reuter-Straße hinunter.
Der war sonst auch nicht so. Das sind die Zeiten.
Der Satz hakt sich in Nelly fest, einen Tag und eine Nacht lang wird sie ihn nicht los: Der war sonst auch nicht so, der war sonst auch nicht so. Morgens tritt sie an das Fenster, das fast bis zum Fußboden herunterreicht, hält sich am Fensterkreuz und blickt auf die Straße, auf das Gewimmel von Leuten, die zur Arbeit rennen. Sie erschrickt nicht über die Gedanken, die ihr wie von selbst kommen, aber sie weiß, daß sie sie nicht ausführen wird. Sie wird wie jeden Tag zur Schule gehen und sich mit der Kranhold streiten.
Die Kranhold wiederholte ihre Einladung. Am Nachmittaggeht Nelly, sie verachtet sich selbst dafür, zum erstenmal zu ihr hin.
Es ist der erste wärmere Tag des Jahres, März. Maria Kranhold wohnt mit ihrer Mutter im ehemaligen Pfarrhaus, der Dienstwohnung ihres Vaters, der Pfarrer war. Nelly sagt, um ihren Besuch zu erklären, sie käme mit den neuen Aufgaben in Mathematik einfach nicht zurecht, die Geometrie sei ihr immer schon unverständlich gewesen. Sie könne sich niemals etwas Räumliches hinter einer Formel vorstellen. (Der Defekt hat sich bis heute nicht vermindert.) Maria Kranhold unterrichtet die seltene Kombination Deutsch – Mathematik. Nelly teilt ihr mit, daß sie ihre Mathe-Lehrer eigentlich nie habe leiden können. Die Kranhold bietet ihr ungerührt ihre andere Hälfte, die Deutschlehrerin, zum Leidenkönnen an. Zufällig hat sie gerade Tee fertig – Brombeerblättertee, der dem schwarzen noch am nächsten kommt – und eine Art Gebäck aus Haferflocken und dunklem Mehl, mit Sacharin gesüßt. Ihre Mutter, die einmal im Hintergrund auftaucht, weißhaarig und gebeugt, versteht sich auf Sparrezepte.
Es ist gerade ein Jahr und drei Monate her, daß Nelly bei einer anderen Lehrerin, Julia, in der Schlageterstraße in L. Haferflockenkekse gegessen hat. Das Zimmer dort war genauso von Büchern umstellt wie dieses ehemalige Studierzimmer von Maria Kranholds Vater. Die Kranhold sagt, es könnten, wenigstens zum Teil, die gleichen Bücher gewesen sein. Sie ist zwanzig Jahre jünger als Julia, sie hat braunes, nicht schwarzes Haar, trägt auch einen Knoten. Ihr Gebiß ist stark ausgebildet. Das blaue Leinenkleid mit dem weißen Gürtel hätte auch zu Julia gepaßt.
Nelly fragt plötzlich, ob sie, Maria Kranhold, wirklich glaube, Menschen wie ihre Lehrerin Julia Strauch hätten sie all die Jahre über wissentlich belogen. Sie ärgert sich sofort über ihre Frage.
Maria Kranhold ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie mag sich innerlich zu höchster Vorsicht ermahnt haben. Vorsichtig wiederholte sie zuerst einmal das Wort »belogen«, mit fragender Betonung: Belogen? Das wäre wohl zu einfach gedacht, sagte sie dann. Belügt man denn andere, wenn man selbst – wenigstens teilweise, was sie
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