Kindheitsmuster
für das Wahrscheinlichste halte – an Lügen glaubt?
Nun sei allerdings Glauben keine Entschuldigung, sagte die Kranhold dann. Man müsse sich schon ansehen, woran man glaube. Über die wichtigsten Dinge sei ja niemand belogen worden. Habe Hitler nicht von Anfang an mehr Lebensraum für das deutsche Volk gefordert? Das sei für jeden denkenden Menschen der Krieg gewesen. Habe er nicht oft und oft gesagt, er wolle die Juden ausrotten? Er hat es, soweit er konnte, getan. Er hat die Russen zu Untermenschen erklärt: Als solche wurden sie dann behandelt, von Leuten, die glauben wollten, daß es Untermenschen waren. Und Leute vom Schlage ihrer alten Lehrerin Juliane Strauch sind sich mit ihrem Daran-Glauben selbst in die Falle gegangen. Wer soll sie dafür freisprechen, daß sie ihr Denken in Urlaub geschickt haben?
Julia, sagte Nelly, hätte keinen Menschen umbringen können, da sei sie sicher.
Möglich, sagte die Kranhold. Aber sie hat Ihnen ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn Sie sich sagen mußten, daß Sie keinen umbringen könnten.
Nelly schwieg.
Sie hat gemacht, sagte die Kranhold, daß Ihr Gewissen sich umgekehrt hat, gegen Sie selbst. Daß Sie nicht gut sein können, nicht einmal gut denken können ohne ein Gefühl der Schuld. Denn wie sollten Sie das Gebot: Du sollst nicht töten! oder die Forderung: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! vereinbaren mit der Lehre von der Minderwertigkeit der anderen?
Und Sie? fragte Nelly. Wie haben Sie das denn vereinbart?
Schlecht, sagte Maria Kranhold. Sehr schlecht. Immer am Rande des Zuchthauses, immer am Rande des Verrats an Gott und den Menschen, die mir anvertraut waren. Aber angebetet habe ich die fremden Götter nicht: So habe ich allerdings auch nicht die Entschuldigung, daß ich an sie geglaubt habe.
Nelly wunderte sich, daß sie überhaupt verstand, wovon die Kranhold sprach. Die fragte sie noch, ob sie die »Iphigenie« kenne. Wirklich nicht? Einer der sonderbaren Erwachsenen-Blicke, die Nelly in den nächsten Jahren öfter zu spüren bekam. Die Kranhold schenkte ihr ein Reclamheft. Nehmen Sie das mit. Lesen Sie.
Nelly lag auf dem Bett in der schmalen kalten Kammer der Witwe Sidon. Sie las. Hinaus in eure Schatten, rege Wipfel ... Sie empfand nichts, bei keinem der ihr fremden Worte. Ihr Goethe war der, den ihre Lehrerin Julia Strauch ihr mit klingender Stimme vorgetragen hatte: Feiger Gedanken / bängliches Schwanken, / weibisches Zagen, / ängstliches Klagen / wendet kein Elend, / macht dich nicht frei. / Allen Gewalten / zum Trotz sich erhalten, / nimmer sich beugen, / kräftig sich zeigen, / rufet die Arme / der Götter herbei.
Heute nacht, in einem durch Grippe gesteigerten Fiebertraum, stahlst du aus einem unverglasten Schaufenster ein paar rehbraune Wildlederhandschuhe mit langen Stulpen. Mit GlacØhandschuhen anfassen, dachtest du dabei. Du befindest dich als Agentin in einer feindlichen Stadt und stehst vor der Aufgabe, dir eine Reiseausrüstung zusammenzustehlen. Als nächstes brauchst du eine Reisetasche. Da siehst du auch schon ein gut ausgestattetes Lederwarengeschäft; es wird einfach sein, sperr1; den Beutel mitzunehmen, den du schnell ausgesucht hast (denselben, der auf eurer Polenreise im Gepäckraum des Wagens lag): Auf einmal wird dir klar, du bist in der Poststraße von L., deiner Heimatstadt. Dein Agentenauftrag ist dir entfallen. Trotzdem wirst du in eine abenteuerliche Handlung verwickelt, in deren Verlauf du dich gezwungen siehst, zwei Menschen im Traum zu erschießen, Bösewichter der schlimmsten Sorte, der eine von ihnen als Arzt getarnt. Im Aufwachen überlegst du, was die Verletzung des bisher ungebrochenen Tabus – des Traum-Mordes – zu bedeuten hat. Warum du dich in der eigenen Stadt als Spion siehst, mußt du nicht fragen.
Die Zeit läuft. Nelly muß jetzt krank werden. Sie muß endlich zusammenbrechen. Die Struktur, die scharf den Zufall regiert, muß klar hervortreten. Im Januar hat man sie – das sind die Gesetze des Zufalls – neben eine Neue gesetzt, Ilsemarie aus Breslau. Die hat ein großflächiges, zugleich durchscheinendes Gesicht, leicht krauses, mittelblondes, geschecktes Haar, zu Zöpfen geflochten und aufgesteckt. Sie hat tiefe Schatten unter den Augen und kräftige Hände mit schmalen Handgelenken. Sie hat eine lässige Art, die nicht zu ihr paßt.Nelly ist angezogen und abgestoßen, wie sie nicht Zusammenpassendes vereint. Sie hat eine leicht rauhe Stimme und eine zögernde Redeweise, die Ute und
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