Kindheitsmuster
der Zeit – man könne alles durch Geld auslösen – verführt zu der Annahme, man bezahle für sein Nichtbetroffensein. Ein Schluß, der wiederum das unsinnige schlechte Gewissen voraussetzt: daß man eigentlich dabeisein müßte. Eine Vermutung: Die Vorstellungskraft von uns Spendenden hält mit der Spende nicht Schritt.
Die Vorstellungskraft der Bürger der Weltmacht Amerika, die es nicht gelernt haben, in den Gesichtern der von ihnen bombardierten oder bestochenen Völker zu lesen, muß davon ausgehen, daß ein jedes Kind dieser Erde sich glücklich schätzen kann, in der amerikanischen Zivilisation aufzuwachsen: Daher der Mangel an Verständnis dafür, daß andere ihre Baby-Brücke aus Südvietnam obszön finden.
Zwischen Kostrzyn und Słubice habt ihr im Auto gesungen,trotz der Hitze. »Die Herren Generale«, habt ihr gesungen, »die Herren Generale, die haben uns verraten, die haben uns verraten.« Und: »In dem Tal dort am Rio Jamara«. Und das Lied vom guten Kameraden, dessen Text sie in Spanien auf Hans Beimlers Tod umgedichtet haben – Lenka kannte es nicht. »Eine Kugel kam geflogen / aus der Heimat für ihn her. / Das Korn hat nicht getrogen, / der Lauf war gut gezogen, / ein deutsches Schießgewehr.«
Lenka kamen nicht die Tränen. Sie sagte: Scheiße.
Nelly hat das Jahr 41 hindurch kein einziges dieser Lieder kennengelernt. Sie hat ihr grünes Kunstlederheft weitergeführt, in das sie sich ganz andere Liedanfänge notierte. (»Eine Trommel geht in Deutschland um« – »Wenn alle untreu werden ...«) Noch zwei, drei Jahre, dann wird sie singen – unter ihren Füßen das Pflaster einer Stadt, deren Namen sie jetzt noch nicht einmal gehört hat: »Bau auf, bau auf«. Und sie wird sich bemühen, die Lieder aus jenem grünen Heft, das übrigens abhanden gekommen ist, zu vergessen. Es gelingt niemals. Die einander überlagernden Schichten der Lieder.
Der Tod, ein verläßlicher Zeit-Genosse, der es übernommen hat, die Erzählung zu gliedern. Als Nelly aus dem Typhuskrankenhaus zurückkommt, liegt Schnäuzchen-Opa im Sterben. Die Mutter scheint, mehr als vom bevorstehenden Tod ihres Vaters, von der Tatsache entsetzt, daß ihre Tochter Nelly Läuse mitgebracht hat. Kopfläuse. Im Krankenhaus hatten alle Läuse, aber das ist ja kein Trost. Charlotte schrubbt ihr die Kopfhaut, streut Läusepulver darauf, umwickelt den Kopf mit einer weißen Binde. So bandagiert, unempfindlich gegen die Lächerlichkeit ihrer Erscheinung, geht Nellyzu ihrem Großvater, Schnäuzchen-Opa. Hermann Menzel, einundsiebzig Jahre alt.
Zum Sterben hat er eine schmale Kammer für sich allein, das kennt Nelly schon. Als sie eintritt, ist der Raum erfüllt mit seinem Röcheln. (Heute ist diese Kammer leer und sauber und aufgeräumt, wie alle Bodenräume in Frahms Haus.) Schnäuzchen-Opa liegt auf dem Rücken – des sogenannten natürlichen Todes scheint man immer auf dem Rücken zu sterben –, das Kinn zornig hoch gegen die Decke gereckt. Sein gelblichweißer Bart, der wild gewachsen ist, umwuchert einen Totenschädel. Auf der Bettdecke die unruhigen Hände: Totenhände. Nelly denkt an die Hornhaut an Daumen und Fingerkuppen der rechten Hand, die ihm der Umgang mit der Schusterahle eingebracht hatte. Schmilzt die Hornhaut der Sterbenden?
Das Rasseln und Röcheln, als käme es nicht von ihm. Nelly bleibt an den Türrahmen gelehnt stehen. Sie faßt ihren Großvater nicht an – wie sie später die tote Großmutter, die tote Mutter berühren wird –, es scheint ihr unmöglich. Nach wenigen Minuten geht sie, verfolgt von dem Röcheln, das auch auf der Treppe zu hören ist. Sie setzt sich auf die obere Treppenstufe und zwingt sich zu denken: Mein Großvater stirbt. Aus seinem ganzen Leben, das sie sich vorzustellen versucht, fällt ihr jetzt nichts anderes ein als die Verzweiflung, die ihn durchdrungen haben muß, als damals, in Bromberg, »die Guste« seine Werbung nicht hatte annehmen wollen. Als er, ein junger Schustergeselle, ihr gedroht hat, er werde sich im Wald erhängen. Als dann wieder sie (Schnäuzchen-Oma) mit ein paar Freundinnen in den Wald lief, ihn zu suchen: Denn das war so einer, ein Verbiesterter,der hätte es wahr gemacht. Nelly stellt sich ihre Großeltern am Ende ihres Lebens erstmals als junge Leute vor, die durch Wälder laufen, behende, schlank, von Leidenschaft getrieben.
Nicht zum erstenmal mußte Nelly sich sehr verwundern, wie selbstverständlich alle Geschichten zu laufen scheinen, wenn man ihr Ende
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