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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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kennt: Als hätten sie nie die Wahl gehabt, sich ganz anders zu entwickeln, zu anderen Schicksalen, anderen Personen hinzuführen. Sie weinte nicht um den Tod Hermann Menzels, sondern darum, daß er nicht dazu gekommen war, sich selbst zu kennen und von anderen gekannt zu werden.
    Schnäuzchen-Oma wich nicht vom Sterbebett ihres Mannes. Am Abend des dritten Tages kam sie zur Tür herein, als alle beim Abendbrot saßen. Jeder wußte, was das bedeutete. Sie ging sich die Hände waschen und setzte sich an ihren Platz. Charlotte tat ihr Suppe auf, Nelly schob ihr ein paar gepellte Kartoffeln zu. Alle schwiegen. Nach einigen Bissen ließ sie den Löffel sinken und sagte: Man sollte es nicht meinen, aber wenn man so lange zusammen gelebt hat, ist es nicht so einfach.
    Dies war der einzige Nachruf für den ehemaligen Schustergesellen und späteren Reichsbahnschaffner und Fahrkartenknipser Hermann Menzel, den Nelly zu hören bekam. Zum Friedhof ließ man sie nicht mitgehen, nicht bei der Kälte, nicht in ihrem Zustand. Einen Vormittag lang stand die Bahre mit der Leiche des Großvaters in Frahms Flur, der ja Nellys Familie als Küche diente. Sie sah auch noch einmal, als das Laken gehoben wurde, für Sekunden sein Gesicht. Sie sah, so streng wie das Totengesicht hätte das Gesicht des Lebendenniemals sein können. Die Mutter bekam einen Ausbruch von Verzweiflung und schlug sich die Fäuste gegen die Stirn, weil Nelly ihre Läusekappe verloren hatte und sich nun die »Nissen« über die ganze Wohnung verbreiten konnten. Nelly dachte bitter: Als ob dies ein Grund wäre, so verzweifelt zu sein. Ein Grund wäre gewesen, dachte sie, daß ein Mensch, der einmal jung gewesen war und verbissen gierig auf sein Glück, aber arm blieb und weit unter seinen eigenen Erwartungen, dann zu trinken anfing und die Frau schlug, um die er sich früher fast erhängt hätte: daß ein solcher Mensch nun so dalag.
    Nelly wollte nicht wahrhaben, daß die Mutter sich vielleicht aus genau den gleichen Gründen die Fäuste an die Stirn schlug.
    Liebe und Tod, Krankheit und Gesundheit, Angst und Hoffnung haben eine starke Spur in der Erinnerung hinterlassen. Was durch die Filter des seiner selbst unsicheren Bewußtseins getrieben wird – gesiebt, verdünnt, entwirklicht –, vergeht beinah spurlos. Die Jahre ohne Gedächtnis, die diesen Anfangsjahren folgen werden: Jahre, in denen das Mißtrauen gegen die sinnliche Erfahrung um sich greift. Niemals haben Menschen so vieles vergessen sollen, um funktionsfähig zu bleiben, wie die, mit denen wir leben.
    (Die Zeit läuft. Vier, fünf Jahre, die in diese Papiere hineingelaufen sind, blindlings, wie dir manchmal scheint. Vier, fünf Jahre, in denen sich, ungeachtet der Versuche, ihr Wachstum zu bremsen, die tote Zone in dir ausgebreitet zu haben scheint. Die Zahl der Gewohnheiten unaufhaltsam zugenommen hat. Der Hang zur Übereinstimmung. Die Anstrengung, dagegen anzuleben, sichim Gesicht abzeichnet. Das Altersgesicht, das sich vorbereitet. Ein Ausdruck, der anzeigt, daß die unvermeidlichen Verluste nicht ohne Widerstand hingenommen werden. Der gute Grund für die grundlose Erschöpfung, die kein Schlaf aufhebt. Wer hat wissen können, daß es darauf ankommen würde, im Rückblick nicht zur Salzsäure, nicht zu Stein zu erstarren. Was bleibt: Wenn nicht ungeschoren, wenn nicht mit heiler Haut, so doch überhaupt, irgendwie aus dieser Sache herauskommen.)
    Wiedereröffnung der sogenannten Oberschulen zum Winter hin. Charlotte besteht darauf, daß die Schule abgeschlossen wird. Zeugnispapiere hat sie ja gerettet. Gerettet hat sie auch ihr Verlangen nach einer höheren Bildung für ihre Kinder. Nelly will Lehrerin werden, und das soll sie auch. Eine Frau Wrunk, entfernte Verwandte der Frahms, die in der Stadt wohnt, ist bereit, ihre Couch an Nelly zu vermieten, vorausgesetzt, daß die mal nach ihren Kindern sieht und im Haushalt mit anfaßt. Frau Wrunk arbeitet auf dem Ernährungsamt, ihr Mann – aber das weiß sie noch nicht – in einem sibirischen Bergwerk. Wieder einmal lernt Nelly nur das Foto des Hausherrn kennen: ein schmaler blonder Mensch, dem die beiden Jungen, acht und zehn Jahre alt, nachgeschlagen sind. Auf norddeutsche Weise kühl, aber anständig und sehr sauber allesamt, vor allem ehrlich.
    Nelly bemerkt von der ersten Stunde an ihre Fremdheit in der guten Stube, die nie angetastet wurde, die reine Unnatur. Die Gesetze der guten Stube gelten für sie nicht mehr. Sie nascht in der Speisekammer

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