Kindheitsmuster
ihren polnischen Namen bekommen hat, längst verlassen haben, als das Fröhlichsche Haus längst zerstört ist (aber noch nicht durch den neuen Betonbau,den ihr auf eurer Fahrt durch die Stadt seht, ersetzt) und als ihr Vater es über sich bringt, auf einem langen Spaziergang am Südabhang des Kyffhäusers mit seiner erwachsenen Tochter die Frage zu besprechen, ob man aus jedem Menschen ein Vieh machen kann. Er neigt zu der Ansicht: Ja. Man kann. Er hat in seinem Leben zuviel gesehen. Zweimal Krieg. Zweimal Gefangenschaft. Von Verdun nicht erst zu reden. Aber dann. Die Franzosen in Marseille mit ihrem »Bosch-Bosch«-Geschrei und den Steinwürfen auf wehrlose Gefangene. Und in der letzten Gefangenschaft die eigenen Kameraden, die den Studienassessor Alex Kuhnke fast totgeschlagen haben um ein Stück Brot.
Und dazwischen Arndt. Dieser Heini. Das Vieh. Auf tritt das Monstrum in der braunen Uniform des SA--Standartenführers, mit blankgewichsten Langschäftern. Harmlos. Bloß, um mal kurz von dem Einzelhändler Bruno Jordan zu hören, ob der von den »Handgreiflichkeiten zwischen politischen Gegnern«, die jüngst auf der Küstriner Straße vorgefallen und bis in die Spalten des »General-Anzeigers« gedrungen sind, irgendeine Notiz genommen hat. Die Antwort lautet schlicht: Nein. Denn besagte Vorfälle – in deren Verlauf auch ein Schuß fiel – hatten bekanntlich in den späten Abendstunden stattgehabt, zu einer Zeit also, da er, Bruno Jordan, längst friedlich in seinem Bett am Sonnenplatz schlief. – So. Woher wußte er dann die Sache mit dem Schuß? – Der Schuß? Ja hatte der nicht überhaupt in der Zeitung gestanden? – Das würde den Standartenführer aber wundern. – Hier irrte sich Arndt, oder, wahrscheinlicher, er bluffte. Der Schuß stand tatsächlich in der Zeitung. Unglaublicherweise, von heute aus gesehen, ebensowie die Eröffnung des ersten Konzentrationslagers, oder die Rede, die der Standartenführer kurze Zeit später im Lokal »Weinberg« halten wird, oder die Annonce, die er kurze Zeit vorher, zur Zeit der Boykottierung der jüdischen Geschäfte, gewiß nicht auf eigene Kosten hatte einrücken lassen: Achtung HAVA! Das Kaufverbot bei der HAVA ist nicht aufgehoben, weil es sich nachweisbar um eine jüdische Schiebung handelt. Der Führer der Standarte 48. Rudi Arndt. Standartenführer.
Fürchterlich gute Gewissen.
Bruno Jordan hat gewußt, wer da in seinem Laden stand. Er wußte: Der Mann hat mich auf dem Kieker. Zu Rudi Arndt war ein bedauerliches Gerücht gedrungen: Frauen bestimmter Kommunisten würden bei Jordan unbegrenzt anschreiben lassen können. – Das war nun das erste, was Bruno Jordan hörte. Anschreiben lassen sie ja alle, Herr Standartenführer, und besonders natürlich die Arbeitslosen. Aber unbegrenzt? Welcher Geschäftsmann kann sich das leisten? Und woher sollte er wissen, welchen Parteien seine Kundschaft angehörte? Allerdings hatte er sein Anschreibebuch gerade nicht parat.
Auf diesem Anschreibebuch bestand der Standartenführer nicht. Er hatte Einblick in Listen, die ihm bei Liquidierung der Kommunistenlokalitäten rein zufällig in die Hände gefallen waren. Wußte der Volksgenosse Jordan eigentlich, wieviel er in den letzten Jahren für die sogenannte Rote Hilfe gespendet hatte? Nein? Nun, er, Arndt, konnte es ihm sagen, auf Heller und Pfennig. Beschiß ist nicht bei uns.
Einen Stuhl hat es in Bruno Jordans Laden nie gegeben.Setzen konnte man sich nicht, wenn einem die Knie weich wurden. Man konnte nur – wie ein hypnotisiertes Kaninchen, kann ich dir sagen – in die scharfen Pupillen hinter dem Kneifer starren. Man mußte noch froh sein, wenn, nach angemessener Pause, ein Angebot kam. Also schönchen. Man muß nicht alles und jedes gleich an die große Glocke hängen. Auch ein Standartenführer kann vergessen – Zahlen, Listen, alles mögliche. Unter gewissen Bedingungen. Ein halber Sack Mehl, ein halber Sack Zucker für das Kreistreffen der SA übernächsten Sonntag in Vietz. Das ist kulant gedacht und zeitgemäß gehandelt. Was nicht heißen sollte, daß er ein paar zusätzliche Schachteln Zigaretten mit Abscheu von sich weisen würde. Und daß der Volksgenosse Jordan nicht in Zukunft etwas sorgfältiger auf die exakte Durchführung des Deutschen Grußes in seinem Geschäft achten müsse.
Auch kein Fragesatz, nebenbei bemerkt.
Mein lieber Freund und Kupferstecher, das waren dir Heinis!
Aussage von Bruno Jordan, vierzehn Jahre nach jenem persönlichen
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