Kindheitsmuster
behalten hat: Schläge. Und daß er Klassenprimus war, was miteinander zusammenhing. Lehrer Rohrbeck, genannt Rohrstock, bestrafte den Lärm der Klasse am aufsichtführenden Primus. Erster Fall: Bück dich, zweiter Fall: Hosen stramm, dritter Fall: Owehoweh, vierter Fall: Mein Popo tut weh. – Mitzählen, alle. Im Chor! – das war dir vielleicht ein Heini.
Was Nelly nicht hören will, wird immer wieder erzählt. Das Wichtige dagegen: Reineweg vergessen.
Ein runder Tisch? Das war noch im Fröhlichschen Haus, das war in der Küstriner Straße. Das war die Hinterstube hinter unserem ersten Laden, in der wir alle drei essen und schlafen mußten. Die Wand lang waren Zuckersäcke gestapelt. Weiß gedeckt? Das Weiße war Wachstuch. Aber es ist unmöglich, daß du dich erinnerst.
Das Bild ist stumm, als uralt gekennzeichnet durchblasse Originalfarben, die zum Rand hin verschwimmen. In der Mitte das kräftige Goldgelb, das die Hängelampe (mein Gott! Die alte Wachspapiertüte!) auf den weißen Tisch wirft. An Vollständigkeit mangelt es dem Bild, also kann es kein Foto sein. Die Tasse bleibt unsichtbar, aus der eine warme süße Flüssigkeit durch Nellys Kehle rinnt. (Muckefuck, gar nichts anderes. Eine hellblaue Henkeltasse übrigens, ein Emaillebecher, genau gesagt. Nein, du kannst es nicht wissen.) Die Mutter rechts. Nicht lachend: strahlend. Vom Vater nichts als dicke rotgefrorene Finger, seltsam und unheimlich verkürzt durch die grauen Wollhandschuhe mit den vorn abgeschnittenen Fingerlingen. (Herrgott im Himmel, die Handschuh hast du bei Frostgraden im Laden angezogen, die Fingerspitzen waren zum Geldzählen frei.) Arme Finger. Das Kind hat ein unbändiges, herzbeklemmendes Mitleid mit ihnen, bei allem Glanz, der über der Szene liegt, bei aller Freude, die von ihr ausgeht. (Diese Mischung, Freude und Mitleid, wird das Bild im Gedächtnis verankern.)
Des Vaters rote Finger zählen Geld auf den weißen Tisch. Der Mutter Hand streicht über des Vaters Joppenärmel. Der Glanz auf den Gesichtern heißt: Wir haben es geschafft.
Banale Deutung, so viele Jahre danach: Der Vater hat seine erste Wocheneinnahme aus dem neuen Laden am Sonnenplatz auf den Tisch geblättert. Mitten in der Wirtschaftskrise – oder sagen wir: gegen ihr Ende hin – haben Bruno und Charlotte Jordan ihr Schicksal beim Schopf gepackt: neben dem bescheidenen, doch gesicherten Laden im Fröhlichschen Haus ein neues Geschäft in einem neuen Viertel eröffnet. Sich eineExistenz aufgebaut. Der Tochter, die die Hinterstube vergessen wird, eine Zukunft eröffnet, ein eigenes Kinderzimmer zunächst. Wie es sich gehört. Die neue Kundschaft hat mit Vertrauen geantwortet. Grund zu Glanz und Glück.
Vor 1350 soll »gedaechtnis« nichts anderes gemeint haben als »Denken« – das Gedachte – und auf diese Weise mit »Danken« verwandt gewesen sein. Dann muß man ein kurzes Wort benötigt haben für »Denken an früher Erfahrenes«. Schönes Beispiel für den Gebrauch von »Gedächtnis« in diesem Wortsinn: Albrecht Haller, »Trauerode«, beim Absterben seiner geliebten Mariane, 1736:
Im dicksten Wald, bei finstern Buchen,
Wo niemand meine Klagen hört,
Will ich dein holdes Bildnis suchen,
Wo niemand mein Gedächtnis stört.
Ein Nachruf. Nach-Ruf könnte im Titel vorkommen. Gedächtnis nicht.
Titelproben, beim Einkaufsweg mit H. In den Geschäften dieses Jahr immer noch die großen Apfelsinen, »Navelfrüchte«. Einkreisung des unbekannten Wortes, das unter einer hauchdünnen Schicht zu stecken scheint, aber von den Such-Organen des Gehirns nicht zu fassen ist. Grund-Muster. Verhaltens-Muster.
Kindheitsmuster, sagte H. beiläufig, es war vor der Apotheke, Ecke Thälmannstraße. Damit war das geregelt.
»Muster« kommt vom lateinischen »monstrum«, was ursprünglich »Probestück« geheißen hat und dir nurrecht sein kann. Doch werden auch Monstren im heutigen Wortsinn auftreten. Bald schon, jetzt gleich, der Standartenführer Rudi Arndt (ein Vieh, das glaub mir: nichts weiter als ein Vieh. Aussage von Charlotte Jordan). Bloß daß dieses Vieh dir nicht entfernt dasselbe Interesse abnötigt wie jene Masse von Halbmensch-Halbvieh, über die du, allgemein gesprochen, aus dir selber heraus besser Bescheid weißt. Und über die Angst, die aus dem dunklen Abgrund zwischen Mensch und Vieh hoch aufschießt.
Faschismus, schreibt der Pole Kasimierz Brandys, Faschismus ist ein weiterer Begriff als die Deutschen. Aber sie sind seine Klassiker gewesen.
Und
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