Kindheitsmuster
du – unter deinen Deutschen – wirst den Mut nicht haben, dieses Motto vor den ersten Satz zu stellen. Wenn du aber nicht genau weißt, wie sie ihn aufnehmen würden, jenen verworfenen Vor-Satz: gleichgültig, befremdet, empört, betroffen – was weißt du von ihnen dann überhaupt?
Die Frage stellt sich ja.
Daß sie begierig auf Klassiker sind? »... seine Klassiker gewesen?« Wer da wüßte, warum. Wer es über sich brächte, es wirklich wissen zu wollen.
(Man unterscheidet folgende Gedächtnisarten: mechanisches, Gestalt- und logisches, verbales, materiales, Handlungsgedächtnis.
Heftig vermißt wird die Gattung: moralisches Gedächtnis.)
Was jetzt und hier ansteht, ist ein technisches Problem: Wie die Familie Jordan – Vater, Mutter, Kind – von jenem glanzvollen Abend am Hinterstubentisch unmittelbar und ohne Übergang – es gibt weder Fotosnoch Gedächtnisbilder – in jene Handlung versetzen, die, vermutlich im Herbst 1933, nachmittags in Nellys neuem Kinderzimmer spielt? Nachtrag zum Sonnenplatz.
Wiederum: Glanz und Heiterkeit und Übereinstimmung, die dem Gedächtnis so wohltun. Und doch möchtest du nicht mir nichts, dir nichts den Lebensmittelkaufmann Bruno Jordan, mit der blauen Schirmmütze des Marinesturms angetan, an das Kinderbett seiner Tochter Nelly treten lassen, die aus ihrem Mittagsschlaf erwacht ist und an einem freudigen Ereignis teilnehmen soll. Über ihr leuchten die Gesichter ihrer Eltern in der Unbefangenheit der Unwissenden.
Aber Zeitung werden sie doch gelesen haben. Wenigstens den »General-Anzeiger« werden sie doch schon abonniert gehabt haben. Zum Zeitunglesen werden sie doch gekommen sein, auch in den Jahren, in denen sie übermäßig gearbeitet haben müssen. Er, Bruno Jordan, immer auf Achse vom Sonnenplatz zum Fröhlichschen Laden, den man nicht aufgab, solange es eben ging; sie, Charlotte, allein mit dem neuen Lehrling im neuen Laden im neuen GEWOBA-Haus. Und sonntags dann – er wieder – die ganze Buchführung für beide Geschäfte. Es war kein Zuckerlecken, das muß festgehalten werden.
In den Kyffhäuser-Lichtspielen gaben sie »Der große Bluff« und etwas später »Ein Unsichtbarer geht durch die Stadt«, aber Frau und Herr Jordan wohnen zu weit weg und sind zu müde, um auszugehen, und so haben sie denn außer ihrem kleinen Mende-Radio nur die Zeitung, und mit der sitzen sie nach dem Abendbrot, ehe ihnen die Augen zufallen, noch am Tisch, um wenigstensden Fortsetzungsroman zu lesen (»Heirat durch die Zeitung« von Margarete Zowada-Schiller) oder die interessante Rubrik »Stimmen aus dem Leserkreis«, darunter die kleine, ans Herz greifende Abhandlung »Tiere in Not« aus der Feder des Naturkundlers und Heimatforschers Studienrat Merksatz. Die Feststellung: JUNORAUCHER SIND OPTIMISTEN!, die in erfreulichem Fettdruck wochenlang den unteren Zeitungsrand entlanglief, bezog Bruno Jordan direkt auf sich: Er rauchte Juno, und er war Optimist.
Andere Mitteilungen wiederum hatten nichts mit ihnen zu tun. Die Beschränkungen gewisser persönlicher Freiheiten (nur als Beispiel), ihnen am 1. März 1933 kundgetan, würden sie kaum am eigenen Leibe fühlen, denn sie hatten ja auch bislang keine Publikationen geplant (Pressefreiheit) oder an Massenzusammenkünften teilgenommen (Versammlungsfreiheit): Sie hatten einfach nicht das Bedürfnis danach verspürt. Und was die Anordnung anging, daß »Haussuchungen und Beschlagnahmen außerhalb der gesetzlichen Grenzen bis auf weiteres zulässig« seien, so richtete die sich gegen einen Menschenschlag, dem sie sozusagen von Natur aus nicht angehörten, um das, völlig wertfrei, einfach festzustellen. Kommunisten waren sie nun mal nicht, wenn sie freilich auch sozial dachten und zusammen mit 6 506 Einwohnern ihrer Stadt sozialdemokratisch wählten. Da fielen von 28 658 abgegebenen Stimmen schon 15 055 an die Nazis, aber man hatte doch noch nicht das Gefühl, daß jeder einzelne Stimmzettel kontrolliert werde. Die von 2 207 Unentwegten – besonders in Brückenvorstadt – gewählten kommunistischen Abgeordneten waren auch noch nicht verhaftet (wie allerdingsschon zwölf Tage später), und die Stadt hatte 3 944 Arbeitslose – eine Zahl, die schon bis zum 15. Oktober 1933 auf 2 024 absinken sollte. Doch soll man – kann man – allein daraus den rauschenden Wahlerfolg der NSDAP vom 13. November des gleichen Jahres erklären, als die Stadt L. mit beinahe hundertprozentiger Wahlbeteiligung und einem Minimum von ungültigen Stimmen
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