Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Eintritt des Viehs, des Monstrums in seinen Laden und in sein Leben. Einziger Zuhörer: seine gottlob erwachsene Tochter Nelly, die mit dem Deutschen Gruß aufgewachsen ist und es zwei Jahre zuvor mühsam hat lernen müssen, »Guten Tag« und »Auf Wiedersehn« zu sagen. Daß dein Gruß ein deutscher sei, grüße stets mit Hitler Heil. Die mangelhafte Form des Verses hat sie gestört, nicht sein Inhalt. Vielleicht hat sie, da sie sich doch auf Gelegenheitsdichtung verstand, sogar versucht, einen besseren Reim zu finden. Dies erzählte sie ihrem Vater nicht. Sie hält ihren Beitragzu der Frage zurück, ob man nicht doch aus jedem Menschen ein Vieh machen kann. Man muß ihn bloß genug zwiebeln. Angst ist nämlich ... Also Angst ist, weißt du ...
    Nelly ist wohl ein bißchen unnahbar geworden. Ein bißchen verschlossen. Denkt wohl zuviel, man weiß nicht recht, was. Charlotte Jordan, die die Schublade kannte, in der die Tochter ihr Tagebuch verwahrte, mochte besser informiert sein. Doch was sie da zu lesen kriegte, besprach sie wohl kaum mit ihrem Mann.
    Das Wort »Konzentrationslager« hat Nelly – in der volkstümlichen Variante als »Konzertlager« – mit sieben Jahren gehört, ob zum erstenmal, muß ungeklärt bleiben. Der Mann der Kundin Gutschmitt war aus dem Konzertlager entlassen worden und sprach mit keinem Menschen ein Wort. Warum nicht? Wird wohl was haben unterschreiben müssen. (So Heinersdorf-Großvater.) Was denn unterschreiben? – Ach Kind.
    Was weiß denn ich.
    Auch kein Fragesatz. Kein Satz, der eine Frage zuließ. Doch eh du dich auf die Vorgeschichte der unterbliebenen, unterbundenen Fragen einläßt – aussichtsloses Unterfangen –, beendest du endlich jene angefangene Szene, ob du scharf darauf bist oder nicht. Immer noch stehen die Eltern an Nellys Bett, um sie an einem freudigen Ereignis teilhaben zu lassen. Nelly blickt direkt in ihre Gesichter, die, das sei wiederholt, »leuchteten«.
    Die blaue Schirmmütze würde der Vater sonst im Kinderzimmer nicht tragen, extra für Nelly hat er sie aufgesetzt. So sehr unterschied sie sich ja nicht von der Vereinsmütze seines Ruderclubs »Schnelle Riege«, dochkonnte man sie mit einem Lederriemchen unter dem Kinn befestigen. Das führt der Vater vor. (Im »General-Anzeiger« ist nachzulesen, wann sämtliche Sportvereine der Stadt in die entsprechenden Gliederungen der NSDAP übernommen wurden. Der deutschen Vereinsmeierei einen tödlichen Stoß!)
    Soweit wie üblich. Wer aber hat mit freudiger Stimme zu Nelly gesagt: Siehst du! Jetzt ist dein Vater auch dabei. Oder: Siehst du, jetzt gehören wir auch dazu.
    Immer unter der Voraussetzung, daß es sich nicht um eine folgenschwere Fehlleistung der Erinnerung handelt, muß diese Mützenvorstellung und die überströmende – auf Nelly überströmende – Freude der Eltern sich aus folgenden Bestandteilen zusammengesetzt haben: Erleichterung (der unvermeidliche Schritt ist getan, ohne daß man ihn selber hat tun müssen); gutes Gewissen (die Mitgliedschaft in jener vergleichsweise harmlosen Organisation – »Marinesturm« – hätte man folgenlos nicht ablehnen können; welche Folgen? Zu genau gefragt); Übereinstimmungsglück (es ist nicht jedermanns Sache, draußen zu stehen, und Bruno Jordan, wenn er zu wählen hatte zwischen einem diffusen Unbehagen in der Magengegend und dem vieltausendstimmigen Geschrei aus dem Radio, dann wählte er, als geselliger Mensch, für die Tausende und gegen sich).
    Nelly aber lernt so das zusammengesetzte Gefühl der Dankbarkeit kennen – ähnlich demjenigen, das sie abends überkommt, wenn die Mutter an ihrem Bett singt: »Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt ...« Ob es sich um wahrhaftige kleine Nägel handeln konnte, fragte sie lieber nicht.
    Ein und dasselbe Gefühl Dankbarkeit – kann also unterschiedlichstenAnlässen gelten. Späte Einsicht in die innere Ökonomie der Gefühle.
    Jetzt aber der angekündigte Versammlungsbericht aus dem »Generalanzeiger«, den der mit A. B. zeichnende Lokalreporter am 2. Juni 33 in das Blatt hat einrücken lassen. Da hat also – am Vorabend – der Standartenführer Rudi Arndt in aller Öffentlichkeit erklärt, daß der Versicherungsangestellte Benno Weißkirch nicht an den Mißhandlungen durch Männer seines SA-Sturmes, sondern an den Folgen eines Herzversagens gestorben ist. An einem bißchen Prügel ist noch kein Mensch gestorben (wörtliches Zitat). Der Weißkirch, der sein blutschänderisches

Weitere Kostenlose Bücher