Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Verhältnis mit einer Jüdin nicht hat abbrechen wollen, hat sich dem Volkszorn durch Flucht in Richtung Bürgerwiesen zu entziehen gesucht, ohne auf sein bekanntermaßen schwaches Herz Rücksicht zu nehmen. Das nationalsozialistische Gewissen des Standartenführers ist mehr als rein.
    Nelly hat im Jahr 1935 lesen gelernt und sich frühestens seit 39/40 für Zeitungen interessiert. Im vorigen Jahr, 1971, im kühlen Sonderleseraum der Staatsbibliothek Berlin, sind Annoncen wie die folgenden dir zum erstenmal unter die Augen gekommen. Auf diese Feststellung wird Wert gelegt, ehe hier Texte erscheinen, die sich niemand ausdenken würde.
    Die Losung »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« ist bereits populär, da beginnt am 1. April 1933 der Boykott der jüdischen Geschäfte und freien Berufe. In L. – heute polnisch G. – kommen 9 Ärzte (1 Tierarzt) und 9 Rechtsanwälte für diesen Boykott in Frage, dazu eine höhere, nicht genannte Zahl von Geschäftsleuten. Während vor ihren Türen Doppelposten der SA aufziehenund Klienten wie Kunden am Betreten der Wartezimmer und Ladenräume hindern (obwohl ja die betroffenen Lokalitäten in jenen Tagen von ihren Besitzern schon freiwillig geschlossen werden), sitzen andere Bürger von Nellys Heimatstadt zu Hause an ihren Küchen-, Eß- und Schreibtischen und entwerfen Annoncen, die sie tags darauf dem »General-Anzeiger« übergeben.
    Sie teilen einander mit, daß sie – und ihre Väter – von Geburt an preußische Staatsbürger waren und daß sie niemals Mitglieder des Soldatenrats gewesen sind. Johannes Mathes, Friedrichstraße. Sie erklären ihr Tuchgeschäft für ein rein christliches Unternehmen. Sie tun sich als christliche Schuhhändler zusammen: »Zur Aufklärung! Schuhhaus Conrad Tack ist trotz rosaroten, nach innen gekehrten Firmeneinschlagpapiers kein christliches Unternehmen. Nur die ganz feinen Leute tragen so markierte Schuhkartons auf den Straßen. Wir bitten, darauf besonders achten zu wollen. Die christlichen Schuhhändler von L.« – Der eine der beiden Tanzlehrer der Stadt bestätigt dem anderen öffentlich, daß er bewährter Kriegsflieger und aus deutscher und erster Tanzlehrerfamilie sei. Er selbst ist Oberleutnant d. R. a. D. Feldart. Regt. 54.
    Der Kreisleiter der NSDAP persönlich teilt mit: »Die gegen Herrn Rechtsanwalt und Notar Dr. Kurt Meyer in L., Friedeberger Straße 2, am Sonnabend von der SA eingeleitete Boykottierung beruht auf einem Irrtum und ist zurückgenommen.«
    Was sonst noch passierte: Der Jude Landsheim hat sich über die SA-Standarte 48 beschwert. – 28. April 33: Schaffung eines Geheimen Staatspolizeiamtes. –Bomben über L.: eine Flugveranstaltung der SA-Fliegerstaffel.
    Die Fenster auf, der Lenz ist da, per Auto wird die Ferne nah!
    Als die Bibliothekarin an deinen Platz trat, um dir einen Bleistift zu borgen, legtest du schnell ein weißes Blatt über die Annoncenseite. Sie wunderte sich, daß dir warm war, wo sie selbst doch auch im Sommer eine Strickjacke überziehen mußte in diesen dickmaurigen Räumen. Einmal springst du auf, gibst den Zeitungsband zur Aufbewahrung, läufst lange durch die Straßen, Unter den Linden, Friedrichstraße, Oranienburger Tor, und starrst den Leuten in die Gesichter, ohne Ergebnis. Zurückverwiesen auf die Wandlungen des eigenen Gesichts.
    Jetzt: Ein Vorgriff auf das Thema: »Gläubigkeit«.
    Den Führer hat Nelly niemals zu Gesicht gekriegt. Einmal wurde der Laden – das war am Sonnenplatz, Nelly ging noch nicht zur Schule – vormittags geschlossen. Der Führer wollte dem Gau »Ostmark« einen Besuch abstatten. Alle Leute liefen zur Friedrichstraße, unter den großen Linden bei der Endhaltestelle der Straßenbahn, die selbstverständlich stillag, weil der Führer bedeutender war als die Straßenbahn. Wichtig wäre zu wissen, woher die fünfjährige Nelly nicht nur wußte, sondern fühlte, was der Führer war. Der Führer war ein süßer Druck in der Magengegend und ein süßer Klumpen in der Kehle, die sie freiräuspern mußte, um mit allen laut nach ihm, dem Führer, zu rufen, wie es ein patrouillierender Lautsprecherwagen dringlich forderte. Derselbe Wagen, der auch bekanntgab, in welchem Ort das Auto des Führers soeben unter den Begeisterungsstürmender unaussprechlich glücklichen Bevölkerung eingetroffen war. Die Leute konnten verfolgen, wie langsam der Führer vorwärts kam, sie kauften Bier und Limonade beim Eckkneipenwirt, schrien, sangen und fügten sich den Anordnungen der

Weitere Kostenlose Bücher