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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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im Gauabschnitt Ostmark an der Spitze der Ja-Stimmen stand?
    Bruno und Charlotte Jordan hatten sich der Stimme nicht enthalten. Man konnte nicht mehr anders.
    Die hatten jetzt alles in der Hand.
    (Wer sind wir, in solche Sätze, wenn wir sie zitieren, Ironie zu legen, Abneigung, Hohn?) Ob Charlotte und Bruno Jordan den nötigen Abscheu aufbrachten gegen die von den Kommunisten »ganz systematisch vorbereiteten Terroraktionen«, zu denen »weitgehend Vergiftungen« gehört haben sollten und über die der Reichsminister Hermann Göring nicht eine oder zwei, nein: »Hunderte von Tonnen Material« hätte vorlegen können, wenn dies nicht die Sicherheit von Reich und Staat gefährdet hätte – das ist zu bezweifeln. Der soll man auf dem Teppich bleiben, pflegte Charlotte in solchen Fällen zu äußern, aber ob sie es damals geäußert hat, ist nicht überliefert. Nie wird man erfahren, ob sie sich darüber den Kopf zerbrochen haben, wo denn in ihrer übersichtlichen Stadt jene »Gewölbe und Gänge« sich befinden mochten, durch welche die Kommunisten »überall« den Polizeiaktionen, der Gerechtigkeit, zu entschlüpfen trachteten. Gegen das neue Pausenzeichen im Deutschlandsender konnte ja kein Mensch etwas haben: »Üb immer Treu und Redlichkeit« war eine der erstenMelodien, die Nelly vollständig und fehlerfrei sang und deren starker Text (»Dem Bösewicht wird alles schwer ...«) ihr früh den ohnehin tief eingewurzelten Zusammenhang zwischen Guttat und Wohlbefinden noch tiefer befestigte: Dann wirst du wie auf grünen Aun durch Pilgerleben gehn. Ein nachwirkendes Bild.
    Die NSDAP hat 1,5 Millionen Mitglieder. Das KZ Dachau, dessen Gründung am 21. März 1933 ordnungsgemäß im »General-Anzeiger« bekanntgegeben wird, besitzt nur ein Fassungsvermögen von 5 000. Fünftausend arbeitsscheue, gemeingefährliche und politisch unzuverlässige Elemente. Die sich später darauf beriefen, von KZs hätten sie nichts gewußt, hatten total vergessen, daß ihre Gründung als Nachricht in der Zeitung stand. (Verwirrender Verdacht: Sie hatten es tatsächlich total vergessen. Totaler Krieg. Totale Amnesie.)
    Der Gedankenaustausch, der sonntagmorgens beim Hamburger Hafenkonzert und echtem Bohnenkaffee zwischen Charlotte und Bruno Jordan über Nachrichten dieser Art stattgefunden haben mag, bleibt, als der Vorstellungskraft entzogen, unbeschrieben. Beschrieben wird werden – zu seiner Zeit – der Blick jenes KZlers am Lagerfeuer von Schwerin in Mecklenburg im Mai des Jahre 45. Der Blick hinter der scharfen Brille mit den verbogenen Nickelbügeln. Der geschorene Kopf und das runde gestreifte Käppi. Der Mann, dem Charlotte, die ihm reichlich von ihrer Erbsensuppe zu essen gab, sagte: Kommunist? Aber bloß weil man Kommunist war, kam man doch nicht ins KZ! Und der Satz, den er erwiderte: Wo habt ihr bloß alle gelebt.
    Dies war kein Fragesatz. Zu einem Fragesatz hat dem Mann die Kraft nicht gereicht. In jenen Tagen mag –und nicht nur im Mecklenburgischen – ein deutlicher Mangel an Kraft und Zutrauen und Einsicht gewisse Möglichkeiten der deutschen Grammatik vorübergehend außer Betrieb gesetzt haben. Frage-, Aussage-und Ausrufesatz waren nicht mehr oder noch nicht zu gebrauchen. Manche, Nelly unter ihnen, verfielen in Schweigen. Manche redeten leise und kopfschüttelnd vor sich hin. Wo habt ihr gelebt. Was habt ihr getan. Was soll nun werden. – In dieser Art.
    Bruno Jordan, der anderthalb Jahre später, bis zur Unkenntlichkeit verändert, mit geschorenem Kopf aus der sowjetischen Gefangenschaft kommt, sitzt an einem fremden Tisch in fremder Küche, schlürft gierig die ihm von Fremden gereichte Suppe und sagt, kopfschüttelnd: Was haben die mit uns gemacht.
    (Lenka sagt: Das versteht sie nicht, solche Sätze. Von Leuten, die die ganze Zeit dabeigewesen sind. Sie will nicht – noch nicht – erklärt haben, wie man zugleich anwesend und nicht dabeigewesen sein kann, das schauerliche Geheimnis der Menschen dieses Jahrhunderts. Sie setzt Erklärung noch mit Entschuldigung gleich und lehnt sie ab. Sie sagt, man müsse konsequent sein, und meint: rigoros. Du, sehr bekannt mit diesem Verlangen, fragst dich, wann der Schwund der unbedingten Strenge bei dir begonnen hat. Was man dann »Reife« nennt.)
    Im Spätsommer des Jahres 33 tritt der SA-Standartenführer Rudi Arndt in Bruno Jordans Laden im Fröhlichschen Haus. Eine erste Schilderung dieses Auftritts erhält Nelly, achtzehnjährig, als die Jordans jene Stadt, die inzwischen

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