Kindheitsmuster
Lucie und Walter Menzel sahen vom Balkon ihrer Wohnung aus den Zug kommen. Sie sahen in dessen Mitte Angehörige des Rotfrontkämpferbundes von L., zum letztenmal in ihren Uniformen, einen Wagen mit den »Symbolen des Kommunismus« begleiten. Vom Balkon aus haben sie den Ausdruck in den Gesichtern dieser Leute nicht erkennen können. (Du siehst ihn, bildest du dir ein.) Hatten sie eine Fensterfront an Schaulustige vermietet? Die Frage bleibt ungeklärt, denn die offenherzige Tante Lucie hat niemals ein einziges Wort über diesen großen Volksaufmarsch verloren.
Der Oberbürgermeister spricht nun zur Einwohnerschaft. »Am 50. Todestag von Karl Marx wird seine Gedankenwelt im eigenen Geburtslande zerschlagen.« Der Stadt-Kreisleiter der NSDAP kündigt an, daß dieFührer und Angehörigen der Kommunistischen Partei selbst ihre Fahnen und Abzeichen verbrennen werden. Der kommunistische Jugendführer, dessen Name ungenannt bleiben soll, geht davon aus, daß seine Führer geflohen seien. »Kameraden! Einer Idee, die sich nicht verwirklichen läßt, kann man nicht mehr nachlaufen.« (Es ist, beinahe genau, der Zeitpunkt, da euer jetziger Freund F., ein junger Kommunist, der sich in Moskau befindet, die entsprechende Stelle der Komintern bittet, zur Jugendarbeit nach Deutschland geschickt zu werden, mit der fast sicheren Aussicht, im KZ zu landen. Was auch geschah.)
»Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!« soll der Standartenführer gebrüllt haben, ehe er das Kommando gab, den Scheiterhaufen, auf dem die Fahnen der Kommunisten lagen, zu entzünden. (Auf dem Hindenburgplatz, auf dem jetzt kurzes mildes Gras wächst, an dessen Rand Bänke stehen, auf denen sonnabendnachmittags Männer Karten spielen, die Flasche unter der Bank, aus der sie sich ab und an zutrinken.) Für das Mädchen Elvira ist der Augenblick gekommen, zu weinen. Für den Korrespondenten des »General-Anzeigers« ist es der Moment, zu notieren: »Auf dem Amboß zerschlagen die Kommunisten mit dem offensichtlichen Wonnegefühl alten Zerstörungsdrangs ihre Schalmeien.« Der Moment für Deutschland- und Horst-Wessel-Lied, einen Wald erhobener Arme, den einheitlichen Herzschlag der zehntausend und den Jubelschrei aus allen Kehlen.
Heute, fast auf den Tag genau vierzig Jahre später, ist es der Zeitpunkt für einige Fragen, deren Schärfe mit bedingt ist durch Nellys Unschuld: Sie war vier Jahrealt. (Du kommst nicht umhin, auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß in diesem Land Unschuld sich fast unfehlbar an Lebensjahren messen läßt.) – Fragen folgender Art: Wie viele Anlieger des Hindenburgplatzes haben am nächsten Morgen ihre für die Überlassung von Fensterplätzen vereinnahmte Miete weisungsgemäß der SA-Kassenverwaltung übergeben? (Was kann es schon groß gewesen sein: ein, zwei Mark pro Stehplatz, mehr doch auf keinen Fall, in Anbetracht der Tatsache, daß L. wenige Wochen später zum Notstandsgebiet erklärt und daß vor Zuzug gewarnt werden wird.) Ferner: Wieviel Prozent der Bevölkerung von L. (48 000 Einwohner) haben an jenem Abend – außer der Familie des Dienstmädchens Elvira, deren Vater auf dem Schlachthof arbeitete – geweint? Müßige Frage, da es niemals eine Meßlatte geben wird, an der sich ablesen ließe, wie viele aus einer Bevölkerungsgruppe weinen müssen, um das Gelächter der übrigen – der überwältigenden Mehrheit – ungültig zu machen. Fünf Prozent? Drei Komma acht? Oder reicht eine einzige Familie aus, eine ganze Stadt zu retten? Fünf Gerechte auf fünfzigtausend?
Du neigst zur Gegenrechnung: Und hätte nur einer gelacht, nur einer gejubelt und aus vollem Halse gesungen! (Ein moralischer Rigorismus, der nichts nützt, weil er über nichts Aufschluß gibt. Der Verdacht, daß du Gelegenheiten suchst, verblassende moralische Maßstäbe aufzufrischen ...)
Die Zahl der Leute am Straßenrand und auf dem Hindenburgplatz (oder wie er geheißen haben mag) ist nicht überliefert. Die Wegstrecke vom Adlergarten zum Hindenburgplatz läßt sich auf drei, vier Kilometerschätzen. »Dicht bei dicht«, heißt es, habe man gestanden. Gut. Aber in welcher Tiefe? Einreihiges oder vielreihiges Spalier?
Statistiken wären in jedem Fall für deine Zwecke zu grob. Selbst angesichts genauer Zahlen kämest du mit neuen Wünschen nach Angaben, die nun mal auf dieser Welt nicht zu erbringen sind. Nach den Tränen würdest du die Schweißtropfen zählen wollen, die unter den jubelnden Massen an diesem Abend
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