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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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diesem selben Fluß, den das Kind Nelly, wenn auch an anderer Stelle, siebenmal überquert hat. Ihre Mutter, Charlotte Jordan, hielt dafür, daß man es einem Menschen anmerke, ob er in seiner Kindheit lange genug auf einen Fluß habe blicken können. Es ändere den Blick. Die Weichsel! sagte sie, ja, das ist ein Fluß!, wenn sie an der bescheideneren Warthe standen und vom Damm aus den Flößen nachsahen. Flößer, von wo kimmt de Wind? – Ut ’n Orschloch, min Kind!
    Ach, an der Weichsel! Stolz glitten die Flöße vorbei auf der Mitte des Stroms, und ein Ruf wie dieser erreichte sie nicht. Hinter den Kindern – Charlotte und ihre beiden Geschwister Liesbeth und Walter – mähte Großvater Johann Heinrich Zabel sein Stück Wiese, das ihm, zusammen mit der winzigen Kate, das Recht gab, sich im Kirchenbuch als »Eigentümer« einzutragen, und wenn er tausendmal von seinem Eigentum nicht leben konnte, sondern als Streckengänger bei der Bahn Dienst tat, auf der Strecke zwischen Schwetz und Grutschno, im Kulmer Land, am Südrand der Tucheler Heide. Bis an ihr Lebensende hat Charlotte das Bild bewahrt, wie ihr Großvater, mit rötlichem Haar und Bart, seinen festen Stock in der Rechten, ein Bündel aus rotkariertem Tuch in der Linken, in das seine Tochter, Tante Lina, ihm Brot und Speck eingeschlagen hatte, im Wald verschwand, bis zu dessen Rand die Kinder ihn begleiten durften. Er lief manchmal in Richtung Therespol, manchmal in Richtung Parlin.
    So steht es auf den sieben Seiten in dem grauen Heft, die Charlotte Jordan gegen Ende ihres Lebens, von der Sehnsucht nach Dauer gepackt, ihrem Großvater gewidmethat. Der Traum fällt dir ein, den sie Nelly erzählt hat, dreißig Jahre nachdem sie ihn zum erstenmal träumte. Sie ist wieder das Kind, das seine Ferien beim Großvater verbringt, in der Fachwerkkate des Dörfchens Wilhelmsmark, und das, wie allsonntäglich, aufgerufen wird, sein Lied zu singen. Der Fußboden aus Tannenholz ist mit Schmierseife weiß gescheuert und kunstvoll mit feinem Sand bestreut, der Tisch mit Plüschdecke und Tischläufer belegt, und auf erhöhtem Platz liegt die Bibel, aus der der Großvater sich, seiner Familie und ein paar Nachbarn das Sonntagsevangelium vorgelesen hat. Un nu dat Mäken. – Da steht Charlotte auf, besten Willens, ihr Lied vorzutragen. Sie kennt nur eins: Vom Himmel hoch, aber es fällt ihr nicht ein. Der Großvater, den alle fürchten, runzelt die Brauen. Heute wird er keinen Grund haben, seiner Tochter Lina nach dem Gottesdienst einen Wink zu geben: Lina, een Streusel für die Kinger! Heute muß er selber einspringen, muß seiner Enkeltochter vorsagen, nein: vorsingen. Die Schande. Kein Mensch hat ihn noch singen hören. Er verwechselt auch die Lieder, singt zittrig, was Charlotte gar nicht kennt, so daß sie nicht mitsingen kann, so schrecklich es sie anrührt: Und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab.
    Nein, sagt Charlotte eingeschüchtert, aber der Großvater versteht es als Weigerung. Wütend steht er auf und geht vors Haus. Alle folgen ihm und müssen traurig mit ansehen, wie er eigenhändig Halme aus seinem Rohrdach zieht. Er, der jedem auf die Finger klopfte, der sich an dem Dach vergriff, er mit seiner ewigen Angst, es könnte dünn und regendurchlässig werden. Damit nicht genug. Nun geht er den Weg zum Dorf.Was sucht er denn? Schrecklich zu sagen: Das Spielgeld sucht er, die Pfennige, die er gestern abend in der Wirtschaft beim Kartenspiel gewonnen und wie immer mit dem Ruf: Spielgeld – Deiwelsgeld! des Nachts in die Wiesen geworfen hatte: Da sammelt er sie unseligerweise wieder ein. Da geht er, der Gerechte, am hellerlichten Sonntagvormittag ins Wirtshaus, um Bier zu trinken. Und sie, Charlotte, in ihrer Vergeßlichkeit ist an allem schuld.
    Aufgewacht ist sie dann, das sagte sie Nelly, immer mit ein und demselben Gedanken, der also wohl noch zu dem Traum gehören mußte: Alles ist verkehrt. Dazu der tiefe Schrecken, der ihr den Traum bedeutsam machte, bis hin zu der Versuchung, mitten in der Nacht aufzustehn und ihn aufzuschreiben. Aber wie kann sie, die Frau eines Lebensmittelkaufmanns, mitten in der Nacht aufstehn und einen Traum aufschreiben. Wie konnte ich das, fragt Charlotte ihre Tochter, dreißig Jahre später, als es keine Frage mehr ist. Der bleibt nichts übrig, als ihr zu bestätigen: Das konntest du nicht, nein.
    Auf der Straße von Słubice nach Kostrzyn – einer guten, wenn auch schmalen Straße – brachte Lenka die Rede auf den

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