Kindheitsmuster

fatale Zug am Abend des 17. März 1933 formierte, sondern auch jener andere: die Marschkolonne von wehrpflichtigen Männern des Stadtbezirks Nordwest, die amMorgen des 26. August 1936 mobilisiert worden waren und zu denen Bruno Jordan gehörte. Eine knappe Woche später zog er in seinen zweiten Krieg.
    Alles zu seiner Zeit. Gefragt war, warum die achtjährige Nelly die Mitteilung des um sechs Jahre älteren Mädchens Elvira – sie seien Kommunisten gewesen und hätten geweint – als wichtiges Geheimnis erkannte und bewahrte.
    Vorläufige Antwort: aus Scheu. (Vorläufig, weil sie nichts erklärt, obwohl sie doch schon die frühere Voraussetzung bestreitet, daß Schweigen eine Tugend sein kann.) Ja – wenn sie geschwiegen hätte, da Reden Elvira schaden konnte. Das war nicht der Fall: Nelly kam nicht auf die Idee, Elvira und die Ihren könnten inzwischen nicht zu getreuen Anhängern des Führers bekehrt sein. Nein: Nicht Elvira zu schützen galt es, deren maliziöses Lächeln Nelly oft störte, weil sie es zugleich bewundern mußte als Zeichen von Eingeweihtsein in Lebensbezirke, die ihr selbst verschlossen waren. Es galt, vielleicht, den eigenen geheimen Bezirk zu erweitern. Denn dieses Kindes gerader, wahrheitsliebender Sinn – du bist für mich durchsichtig wie eine Fensterscheibe, pflegte Charlotte zu ihrer Tochter zu sagen – hatte ihm selbst verborgene Trübungen und Verstecke ausgebildet, in die es sich zurückziehen konnte, um mit sich alleine zu sein. Die Zudringlichkeit der anderen ist der Ursprung für das Geheimnis, das sich zum Bedürfnis, schließlich zur Gewohnheit entwickeln, üble Laster und große Gedichte erzeugen kann.
    Du mußt mir alles sagen.
    Die tiefe Spur, die Schuld und Verschweigen, welche sich unauflöslich und für immer ineinander verfilzten,in Nellys Gemüt zogen, ist mit Glitzerworten besetzt. Den Erwachsenen, die sie aussprachen, begannen die Augen zu glitzern. Man mußte ihnen nicht auf den Mund, sondern auf die Augen schauen, wenn sie sprachen, um herauszufinden, nach welchen Wörtern man nicht fragen durfte.
    Unnormal zum Beispiel. Charlottes wiederholter Ausruf: Ja seid ihr denn noch normal!
    Es durchfuhr Nelly, sie könnte recht haben. Nicht normal sein ist das Schlimmste überhaupt, jeder fühlt es, wenn er einen Jungen namens Heini ansieht, der von seiner unglücklichen Mutter oder einem seiner unwirschen Brüder in einer ausgepolsterten, mit Rädern versehenen Margarinekiste vorbeigezogen wird, der mit seinen falsch eingesetzten dürren Händen schlenkert, mit den Füßen rudert und seine Spucke am Kinn entlangfließen läßt, wobei er jedem, den er wahrnimmt, seine drei einzigen Worte entgegenlallt: Mamma arme Tante.
    Heini, genannt Mamma arme Tante, der immer lacht, ohne je lustig zu sein, ist nicht normal. Nelly aber, gottseidank gesund, gottseidank bei normalem Verstand, wird es nicht dahin kommen lassen, daß ihr die Glieder an den Gelenken schlottern, was sie heimlich ausprobiert, und daß irgendwelche sinnlosen Wörter ihr wieder und wieder aus dem offenen Mund rutschen. Sie wird sich also zusammennehmen. Das ist es, was jeder Mensch lernen muß, sonst ist er kein Mensch, sagt die Mutter. Man muß sich doch beherrschen können! sagt sie, als Waldins Anneliese, nicht älter als siebzehn, mit einem Bäckergesellen des Abends öfter in den Wepritzer Bergen spazierengeht. Die Brötchen möcht ich malsehen, die der ihr bäckt! Dieses Mädel ist triebhaft, das sieht ein Blinder mit dem Krückstock. Oben hui, unten pfui.
    Triebhaft ist ein Glitzerwort. Auch Schwindsucht ist ein Glitzerwort, allerdings ein schwächeres. Eines, das Nelly selber ausprobieren kann. Sie wird hinausgeschickt, weil sie Milch auf den Frühstückstisch verschüttet hat. Geh raus spielen. Draußen steht Christel Jugow mit ihrem schuldbewußten blassen Gesicht und ihrem unerträglichen Korbpuppenwagen. Spielst mit mir?
    Heute nicht.
    Tränen, das Übliche. Wo ich doch mit dir am liebsten spiel. – Als ob ich was dafür kann. – Warum spielst du denn nicht mit mir!
    Da beschließt Nelly, sofort, in diesem Augenblick das mitleidig-heuchlerische Verhältnis zu Christel Jugow ein für allemal zu beenden. Sie teilt ihr mit, ihre Mutter, Frau Jordan, habe ihr jegliches Spielen mit Christel Jugow verboten, weil diese eine Schwindsucht habe, die sich gewaschen hat, und zwar in der Lunge, was bekanntlich rasend ansteckend sei.
    Der Frau Jugow, die zehn Minuten später mit ungekämmtem Haar und aufgelösten