Kindheitsmuster
Schürzenbändern vor Jordans Wohnungstür steht, leugnet sie jeden dieser Sätze ins Gesicht und läßt sich dafür »verdorben« nennen. Der Mutter, die sie hinter den Schrank zieht, gibt sie ohne weiteres und reuelos alles zu, lehnt es aber ab, eine Erklärung für ihr Verhalten zu liefern. Sie erhält den ungläubig strafenden Blick, mit dem sie gerechnet, auf den sie vielleicht alles angelegt hat, und setzt sich ans Fenster.
Doch Sonntage sind lang, und Nelly sah ihren kargen Vorrat an Selbstzufriedenheit abnehmen und mit den Stunden zergehen, bis sie vor der Frage stand, warum sie wirklich mit der blassen Christel Jugow gebrochen hatte: Weil sie nicht mehr lügen wollte – wofür sie schamlos zu lügen bereit war – oder weil sie den Vorwand lange gesucht hatte, die langweilige Trantunte loszuwerden. Jedesmal, wenn es ihr gelungen war, sich freizusprechen von Schuld, mußte sie erleben, daß in einer tieferen, dunkleren Schicht in ihr die Frage neu geboren wieder aufstand, daß die Antwort schon anders ausfiel, und wieder anders beim nächsten Mal, bis jede Gewißheit über sie selbst in einem bodenlosen Trichter zu versinken drohte. Ein Vorgang von unheimlicher Faszination, den sie wiedererkannte: Die weiße Krankenschwester auf den Banderolen der Libby’s-Milch-Büchsen, die dem Betrachter, Käufer, Milchtrinker eine zweite Libby’s-Milch-Büchse auf der flachen Hand entgegenhält, auf deren Banderole eine zweite Krankenschwester, nun schon recht klein, mit einer dritten Büchse genau das gleiche tut. Und so fort. Bis Krankenschwestern und Büchsen eine Winzigkeit erreicht haben, die kein Pinsel mehr malen, aber Nellys gequältes Gehirn sich übergenau vorstellen konnte, gestochen scharf, bis ihr rechts über dem Auge ein stecknadelgroßes Pünktchen zu glühen und zu zingern begann.
Was hast du denn. Ist dir was? Was heißt hier Kopfschmerzen. Zeig mal her. Na also: Fieber. Das Kind hat ja Fieber. Das Kind muß ja stehenden Fußes ins Bett. Nun ist ja klar wie Kloßbrühe, warum sie heute so komisch war. Sie hat was ausgebrütet.
Windpocken, sagte Doktor Neumann, seien nicht ernsterzu nehmen als Fliegenschisse. Nur daß der Homunkulus Charakter zeigen und sie nicht abkratzen dürfe.
Es war Nelly nicht unlieb, daß Charakter nur unter Schwierigkeiten zu zeigen war; daß inzwischen draußen das große GEWOBA-Geländespiel lief, zu dem sie sich die Teilnahme durch einen tiefen Griff in des Vaters Bonbongläser hätte erkaufen müssen; daß Christel Jugow, wie sie hörte, in Begleitung einer neu Zugezogenen namens Hildchen, die nach dem Urteil der Mutter ebenfalls aussah wie Braunbier und Spucke, nun ihren hellbraunen Korbpuppenwagen gemächlich über die Höfe schob und sie selbst unter Anleitung von Frau Elste in aller Ruhe ein paar Topflappen häkeln konnte. Frau Elste, die ihre Windpocken hinter sich hatte (und manches andere auch, ach, wenn du wüßtest!) und sich daher furchtlos an Nellys Bett setzen und unter heftigen Bewegungen des Tennisballs an ihrem Hals »Es geht bei gedämpfter Trommeln Klang« singen konnte. »Wie weit noch die Stätte, der Weg wie lang. / O wär er zur Ruh und alles vorbei, / ich glaub, es bricht mir das Herz entzwei.«
Da ließ Nelly, geschwächt natürlich durch das Fieber, ihren Tränen endlich freien Lauf.
Artfremd war auch ein Glitzerwort. Ob es nicht wahrscheinlich ist, daß Bruno Jordan seiner Frau hin und wieder solche Wörter aus der Zeitung vorlas, die sie selbst nie und nimmer gebraucht hätte? Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Oder Sterilisierung, die, wie die Zeitung betonte, nicht gleichzusetzen war mit Kastration.
Bruno! Ich bitte dich. Denk an das Kind. Ein Hin und Her von Redewendungen, mit Glitzerworten besetzt,unter denen der Mutter auch das hochinteressante »unfruchtbar« entschlüpfte: Deine beiden Schwestern sind nun mal unfruchtbar, traurig, aber wahr. Da hilft kein Singen und kein Beten.
Des Vaters jüngere Schwestern sind: Tante Olga, die in Leipzig mit Onkel Emil Dunst verheiratet war (Emil Dunst, der angeblich Kosmetika für eine renommierte Firma »vertrat«, wozu Charlotte nur bemerken konnte: Wenn der das selber glaubt, heiß ich Moritz), und Tante Trudchen, die mit ihrem Gatten, dem Autoreparaturwerkstattbesitzer Harry Fenske, in Plau am See lebte. Plau am See, wenn nicht die schönste, so doch die wundersamste Stadt der Welt, wo feines zerbrechliches Spielzeug in allen Schaufenstern lag (Spitzentänzerinnen zum Beispiel
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