Kindheitsmuster
Glauben der Tasadai, ein vierundzwanzigköpfiger Volksstamm, der, wie sie in der Zeitung gelesen hatte, auf der Philippineninsel Mindanao entdeckt worden war. Sie haben sich, sagt sie, im Laufe von sechstausend Jahren nicht zu der allerkleinsten Erfindung herbeigelassen, und wißt ihr, was sie glauben? Sie glauben, daß weiße Zähne tierisch sind, und haben die ihren bis fast auf die Wurzeln abgeschliffen und mit Pflanzensäften schwarz gefärbt. – Immerhin, sagteH. Ihr spracht von den unendlich vielen Möglichkeiten, sich vom Tier zu unterscheiden. Irgendwo müsse man wohl anfangen, fandet ihr.
Dann schwiegt ihr lange. Durch eine abwegige Gedankenverbindung kamst du auf das Mädchen Elvira. Ob Bruder Lutz sich noch an Elvira erinnerte. Elvira mit dem ewig beleidigten Lächeln.
Warum?
Weil Elvira aus einer Kommunistenfamilie kam. – Das hatte Lutz nicht gewußt. Elvira hat es aber der achtjährigen Nelly erzählt, an einem heißen Sommernachmittag, als durch die heruntergelassenen Jalousien ein Sonnengitter auf Küchentisch und Linoleum fiel. Da hat Elvira, das Dienstmädchen, Nelly gesagt, sie alle – Vater, Mutter, sie selbst und ihre zwei Brüder – seien an jenem Abend vor vier Jahren zu Hause geblieben, als sie auf dem Hindenburgplatz die Fahnen der Kommunisten verbrannten. Sie hätten in ihrer Kellerwohnung neben dem Schlachthof gehockt und hätten alles vor sich gesehen, als wären sie dabei. Und sie hätten geweint. – Geweint? fragt Nelly. Ja aber – wart ihr denn Kommunisten? – Ja, sagte Elvira. Wir waren Kommunisten und haben geweint.
Nelly hat die Geschichte für sich behalten, ohne sie allerdings zu vergessen. Sie war beunruhigt. Kommunisten waren Leute, die SA-Männer auf den Straßen niedergeschlagen oder heimtückisch abgeknallt hatten. »Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen ...« Kommunisten heben die Faust und schreien dazu: »Rotfront!«
Warum hat Nelly keinem Menschen erzählt, was Elvira ihr anvertraute? Fürchtete sie für Elvira? – Diesmal,obwohl es unmöglich scheint, willst du diesem Kind auf die Schliche kommen.
Zuerst die Fakten.
Hat es in L. überhaupt eine Fahnenverbrennung gegeben? Darüber läßt der »General-Anzeiger« keinen Zweifel: »Generalsäuberung auf dem Hindenburgplatz!« Datum: 17. März 1933. Die Führer der Kommunistischen Partei hätten sich, heißt es da, »von ihr abgewandt«. Dies ist der SS und SA Grund genug, das Endergebnis ihrer wochenlangen Säuberungsaktionen in einem »Triumphzug« durch L. festzulegen. »Tausende werden Standartenführer Arndt zujubeln.« Die Fensterplätze rund um den Hindenburgplatz seien alle vermietet. Jeder Vermieter werde aufgefordert, das vereinnahmte Geld restlos der Kassenverwaltung der SA abzuliefern.
Der 17. März also. Tag der nationalen Erhebung in L. Das Frühstück bei Jordans, die sich vielleicht die Schlagzeile aus dem »General-Anzeiger« vorlesen, verläuft normal. Womöglich liest Charlotte ein paar Sätze zuviel, mit jener besonderen Betonung, die Sätze in ihrem Mund annehmen können. Hör doch auf, sagt vielleicht Bruno Jordan. Wir werden nicht jubeln, und damit basta. – Die Fensterplätze um den Hindenburgplatz ... Du, hör mal! Ob auch Lucie und Walter? (Walter Menzel, Charlottes Bruder, der mit seiner jungen Frau Lucie am Hindenburgplatz wohnte: Ob also auch er seinen Balkon vermietete?) – Unsinn, sagte vielleicht Bruno Jordan. Was du immer redest.
Ob die Nacht des 17. März auch die Nacht war, in der Charlotte zum erstenmal mit Schrecken dachte – oder träumte –: Alles ist verkehrt!, das wird niemandje erfahren. Aber gerade diese Art Tatsachen, die keine Zeitung berichtet und keine Statistik erfaßt hat, sind es, die dich heute interessieren könnten. Nicht, daß es in jeder Stadt die nationale Erhebung gegeben haben muß. Nicht einmal nur, daß – laut »General-Anzeiger« – die Bevölkerung von L. dicht bei dicht die Hauptstraßen gesäumt hat, auf denen in der achten Abendstunde, vom Adlergarten herkommend, der Fackelzug von SS und SA sich näherte. Marschmusik und Gesang. Die Fahnen der Bewegung. Das Hochreißen der Arme. Bekannte, allzu bekannte Gesten. Was man da gedacht und gefühlt haben mag, ohne selbst davon wissen zu wollen: Dies wäre es, was du gerne wüßtest.
Bruno Jordan mag sich eine leichte Grippe zugezogen haben, die ihn an das Bett fesselte. Auch wäre ihm der Text des Horst-Wessel-Liedes, das sicher gesungen werden würde, noch nicht geläufig gewesen.
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