Kindheitsmuster
einzelnen aus Angst auf die Stirnen traten. Die Hände, die vor Ekel feucht wurden. Die Herzschläge, die stockten, mitten im Höherschlagen. – Mag sein, auch diese Angaben fielen ungünstig aus. Mag sein, es ist wahr: Wie ein Mann haben sie dem Standartenführer Arndt zugejubelt, und sie hätten jedem zugejubelt, wie er auch geheißen hätte. Wenn er auch nicht diesen spreizbeinigen Gang, diese kurzen Arme und Beine gehabt hätte und dieses Doppelkinn, das der Sturmriemen zerteilte. Aber sie hatten keinen anderen, sie hatten den. Und da sie nicht so sehr ihn wie ihren Jubel brauchten, nahmen sie ihn und jubelten.
Grund genug, die Reise in die einst jubelnde und jetzt verlorene Heimat auf die lange Bank zu schieben? Denn Desinteresse solltest du nicht heucheln. Vielleicht zieht es dich nicht – sowenig wie jeden anderen – über Grenzen, hinter denen alle Harmlosigkeit aufhört. Es ist übrigens merkwürdig, wie eine einzelne Bauersfrau, die ihr weißes Kopftuch auf eine bestimmte Weise gebunden hat und eine Heuharke über der Schulter trägt, eine bekannte Gegend – es war die beiderseits von flachen Feldern gesäumte Landstraße hinter Górzyca (früher Gohritz) – in eine östliche Landschaft verwandelt, auf die du neugierig wirst. Nicht im Widerspruch dazuzähltest du auf, was du am Straßenrand erkanntest: Schafgarbe, Wiesenschaumkraut, Johanniskraut, blaue Wegwarte, Huflattich, Beifuß, Wegerich und Hirtentäschelkraut. Wie es eben überall vorkommt, behauptete H., und Lenka, die mit ihm so etwas wie eine Fraktion zu bilden begann, mußte ihm recht geben. Da sei auch nicht die Spur von etwas Besonderem. Du sahst aber, und jeder mußte es doch sehen, daß auf diese Weise, in dieser botanischen Zusammensetzung, nur ein Straßengraben jenseits – oder vielmehr: diesseits – also jedenfalls östlich der Oder bewachsen sein kann. Ihr Protest, eine Spur zu heftig, sollte dich vor Sentiment warnen, überflüssigerweise. Ihr Verdacht, daß Warnungen am Platz wären, verstimmte dich natürlich. Laß doch, sagte Lutz.
Das verstehen sie nicht.
Du wolltest es aber erklären. Daß du niemals Heimweh gehabt hättest, hast du ja nicht behauptet. Du würdest auch nicht leugnen, daß du zuzeiten gewaltsam dagegen vorgegangen bist und daß, was die möglichen Nachwirkungen betrifft, gewaltsames Vorgehen in Gefühlsdingen immer bedenklich ist. Wenn aber nun schon seit vielen Jahren auch nicht ein einziges Mal die Straßen deiner Heimatstadt im Traum vor dir erschienen sind (wie es doch vorher häufig geschehen war, verbunden immer mit der Aufforderung, sie zu benennen, was dir nicht möglich war im Traum; im Erwachen dann konntest du alle Namen am Schnürchen hersagen, die du schlafend verweigern mußtest: Adolf-Hitler-Straße und Bismarckstraße und Schlageterplatz und Moltkeplatz und Hermann-Göring-Schule und Walter-Flex-Kaserne und SA-Siedlung; denn das Straßennetz derKindheitsstadt ist dir, wie jedem, ein für allemal eingedrückt, als Muster für die naturgewollte Anlage von Marktplätzen, Kirchen, Straßen und Flüssen. Hier kann es, weil zu verräterisch, weil Spuren weisend, die doch verwischt werden müssen, nur teilweise, nur verändert, vertauscht, verwendet werden; denn du bist gehalten, die Fakten zu verwirren, um den Tatsachen näherzukommen): Daß dieser Traum so lange ausgeblieben ist – welchen überzeugenderen Beweis für Distanz sollte es geben als diesen? Später soll gefragt werden, wofür es ein Beweis ist, daß du nach dem Besuch der Stadt wieder angefangen hast, von ihr zu träumen.
Die meisten Straßen der Stadt waren gepflastert, teils mit Katzenköpfen, meist aber doch schon mit Großflächenpflaster aus der sogenannten Grauwacke, einem unverwüstlichen Stein, der womöglich noch heute unter der Asphaltdecke der modernen Straßen liegt, zum Beispiel auch unter der einen Hälfte der zu zwei Fahrbahnen erweiterten und mit Teersplitt überzogenen Soldiner Straße, an der übrigens linker Hand – wenn man von der Stadt kommt – der heute vernachlässigte Adlergarten, etwas vierhundert Meter weiter oben aber (die Straße steigt ja an) zur Rechten jenes Zweifamilienhaus liegt, das Bruno Jordan im Jahre 1936 bauen ließ und in dem die Familie zuletzt, das heißt bis zur Flucht, neun Jahre lang gewohnt hat. Es war ebenderselbe Adlergarten – eine Kneipe mit Saalbau und einem sogenannten Kaffeegarten: Gartentische und -stühle auf einem kiesbestreuten Hof –, von dem aus sich nicht nur jener
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