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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Zustand ist. Es war ja übrigens deine Erinnerungsstrecke: Linker Hand, gen Norden, der teils sanft und kuschelbewachsen, teils in sandigen, gelb-ockerfarbigen Brüchen steil abfallende Saum der Endmoräne, rechter Hand die Bahnlinie und gleich hinter ihr Sumpfland und Weidengebüsch, das den Fluß leider oder glücklicherweise noch verdeckte. Unerwartet der Anfall von freudigem Heimweh, ein paradoxes Gefühl aus entgegengesetzten Bestandteilen. Du erklärtest, Durst zu haben, und bestandest auf Rast. H., der während dieserganzen Fahrt nicht ein einziges Mal mit dir zu handeln suchte, hielt sofort im Schatten eines der den Straßenrand säumenden schiefen Kirschbäume.
    Den Feldweg hin bis zum Weidengebüsch waren es ein paar Schritte. Jenseits der Straße flaches Feld – Futtergetreide – und rechts die kleine Häusergruppe. Lenka, die aus der roten Thermoskanne kalten Tee mit Zitrone trank. H. und Lutz, die das Auto umwanderten und mit den Schuhspitzen prüfend gegen die Reifen stießen. Dies war der Augenblick: Du konntest wieder sehen. Farben, Formen. Die Landschaft, wie sie aus ihnen gemacht ist. Neben der Freude der Schrecken darüber, was man verlieren kann, allmählich, ohne es zu vermissen. Es überwog die Heiterkeit.
    Sie wurde, als gute Laune, gebührend bemerkt.
    Wie es ihnen denn nun gefiel.
    Nicht übel, sagte H. Lenka, an diesem Tag zu Konzessionen bereit, sagte großmütig: Einwandfrei.
    Sie erinnert sich nicht daran. Daß sie aus der Kanne getrunken hat, wird sie nicht bestreiten, es ist durch das Foto belegt. Du hast es schon mit der zweiten Generation von Fotos zu tun; unaufhörlich geht die Zeit in Vergangenheit über und bedarf der Anhaltspunkte, des belichteten Zelluloids, der Schriftzüge in vielerlei Papieren, der Notizbücher, Briefe, Ausschnittmappen. Immer muß ein Teil des heutigen Tages dazu herhalten, den gestrigen im Gedächtnis zu befestigen. Du weißt – aber ist dir klar, was du da weißt? –: Dein Unterfangen ist aussichtslos. Niemals, jedenfalls lebend nicht, kann einer erreichen, was er vielleicht insgeheim anstrebt: Die Zeit im gleichen Augenblick durch Beschreibung verewigen, in dem sie schon vergeht: vergangen ist. Wieaber – da man doch seinen Tod nicht wünschen kann – sollst du wünschen, die Zeit stünde still? Zwischen zwei Unmöglichkeiten, wie immer, der banale Weg des Kompromisses: Einen Teil des Lebens – aber eben nicht das ganze – opfern, sich abfinden mit den unvermeidlichen Lücken der Berichterstattung, mit den Notbehelfen. Stufen, die man in den unbezwungenen Berg schlägt und an denen die Erinnerung sich zurücktasten kann.
    So ist es wahrscheinlich, daß dieser trübe, kaltnasse Sonntagvormittag, an dem du diese Seite schreibst, dir erinnerbar bleiben kann: Nicht wegen des nassen Silberglanzes auf dem Stamm der Fichte vor deinem Fenster, nicht wegen der dünnen wäßrigen Schneedecke drüben unter den Birken oder wegen der schwarzen Amseln, die unter dem Schnee im alten Laub wühlen; vielleicht auch nicht wegen der Nachricht, daß, eine Stunde nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstandsabkommens in Vietnam, südvietnamesische Regierungsflugzeuge die Straße nach Saigon heftig bombardiert haben. Sondern allein wegen der merkwürdig lustvollen Anstrengung, die aufzubringen ist, um jene Stunde auf der Bank unter der Trauerweide, die nun eineinhalb Jahre zurückliegt, so zu schildern, als säßest du jetzt dort, in der Mittagshitze, im Stadtpark; und zugleich so, als sei diese Stunde eine von vielen, an die man sich gleichzeitig erinnern kann, so daß man weiß, wohin jede von ihnen gehört.
    Überzahl der Bilder, die teils von außen hereinstürzen, teils von innen aufsteigen, im Halbtraum. Rot grün blau gelb. Glühbirnen. Ketten von bunten Glühbirnen, die hängen über der Eisbahn, in schönen Bögen. Die billigstenFarben der Welt, Bonbonfarben, die Nelly, wenn sie vor dem schwarzen Winterhimmel plötzlich aufsprangen, diesen Stich beibrachten, Entzücken oder Schmerz, den du nie wieder bei Farben gefühlt hast, nie wieder fühlen wirst. Freude, das ja, Andacht sogar, Bewunderung, Lust. Aber was ist das alles gegen dieses mächtige Signal: ROT GRÜN BLAU GELB, an das sich sogar die Eisbahnschallplattenmusik halten mußte: Ali, Holzbudenwirt, Schlittschuhverleiher, Heißgetränkhersteller, verließ auf der Stelle die Theke und legte »Hörst du mein heimliches Rufen« auf, und die besten Läufer formierten sich zum großen äußeren Kreis und

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