Kindheitsmuster
umrundeten in herrlichen Holländerschwüngen die Eisbahn, als wäre es nichts, und wußten um die Welle von Bewunderung und glühendem Neid, die ihnen vom Innenkreis her, wo man auf den Schlittschuhen herumfuhrwerkte, entgegenschlug. In den letzten zwei Jahren war Nelly unter den Läufern im Außenkreis, und es gab nur wenige Dinge, die sie für diesen Holländerwalzer unter den Glühbirnenschnüren nicht hergegeben hätte. Eine dumme Sehnsucht danach bleibt, nicht totzukriegen, die – albern oder nicht – ausgerechnet an diesem Hitzetag, so nah dem Ort ihres Ursprungs, sich melden muß.
Allerlei Leute gehen heute durch den Park. Eine junge Tante Liesbeth, Kinderwagen schiebend, würde nicht so übel hierherpassen. Ein Gedanke, der zu Lasten der Hitze geht, der Halbschlafmüdigkeit. Tante Liesbeth muß in jener westdeutschen Stadt hocken, ihrem Mann – wiederum Expedient bei der verlagerten Firma Otto Bohnsack, Getreide und Futtermittel – mit vielfältigen hysterischen Krankheiten das Leben vergällen. Die beiden blondzopfigen Mädchen neben dir auf der Bank,die sich ihre Geheimnisse zuflüstern, weil sie nicht wissen können, daß du kein Wort ihrer Sprache verstehst, würden sicher gleich aufstehn, wenn eine Frau mit Kinderwagen sich niederlassen wollte; würden – wie eben jetzt – untergehakt und kichernd über das Brückchen aus rohen Birkenstämmen davongehen und den strengen Alten in schwarzer Jacke, mit schwarzem Hut überholen. Tante Liesbeth würde neben dir Platz nehmen ... und weiter darfst du es selbst im Halbschlummer, selbst im Traum nicht treiben, denn niemals mehr wird Tante Liesbeth neben dir auf einer Bank sitzen, du wirst sie niemals mehr sehen, obwohl sie lebt (»Man soll nie nie sagen!«), das ist so gut wie sicher. Sie wird aufhören, zum Totensonntag ihr Grabgebinde für das Grab ihrer Schwester Charlotte zu schicken, die an jenem glutheißen 10. Juli des Jahres 1971 bald drei Jahre lang tot ist.
(Verfestigung der Personen; das Schrumpfen ihrer Möglichkeiten – oder ihrer Illusion von Möglichkeiten, die sie niemals besessen hatten. Und ausgerechnet eine einzige, ausgerechnet Seine Majestät das Ich soll davon unbetroffen bleiben? Verräterisches Gefühl von Unverletzlichkeit; Romangefühl.)
Dort, wo am Schwanenteich das Liebespärchen hockt, dort oder doch ganz in der Nähe hat Bruno Jordan einmal einen Rausch ausgeschlafen. Dieser Rausch wurde – ganz im Gegensatz zu anderen Räuschen vor- und nachher – für wert befunden, in die Familienlegende einzugehen, zusammen mit dem Ausspruch (der allerdings von Tante Liesbeth Radde stammen muß): Für Charlotte hat es ein Kavalier sein müssen, unter dem tat sie’s nicht. Du hast dich also zu fragen, warum NellysMutter – als Fünfundzwanzigjährige erste Buchhalterin in der Käsefabrik Mulack – auf einen Kavalier aus war. Wer sie nur in ihrem weißen Ladenmantel gekannt hat, wie sie vor keiner Arbeit zurückschreckte, wie sie Zuckersäcke ins Lager zog, Heringe abpackte, den Fußboden mit IMI-Lauge scheuerte – der wird sich bloß wundern, weiter nichts. Wenn man aber gegen ihren Charakter – der stolz und unbeugsam war – die Umstände hält, auf die er stieß: Nicht nur die Armut. Nein: die Demütigung auch ...
Zum Beispiel die Episode vom Fußfall. Nelly konnte es nicht vertragen, wenn Charlotte – selten genug übrigens – auf sie zurückkam. Aber Charlotte möchte, daß endlich jemand sich vorstellt, was ein Kind empfindet, welches die Mutter kurz vor Weihnachten sauber schrubbt, dem sie, wie auch seinen Geschwistern, die Haare bürstet, um als ordentliche und vertrauenswürdige Familie vor dem Herrn Eisenbahnoberinspektor Witthuhn zu erscheinen: jenem Mann, der die Macht hatte, Hermann Menzel, Schnäuzchen-Opa, vor dem Fest noch auf die Straße zu setzen oder ihn weiter in seinem Knipserhäuschen die Fahrkarten knipsen zu lassen. Frau Auguste hatte jenem Herrn schluchzend zu versprechen, ihr Mann werde hinfort nur nüchtern, stocknüchtern zum Dienst erscheinen; die Kinder aber hatten auf ein Zeichen ihrer Mutter vor Herrn Inspektor Witthuhn stumm in die Knie zu sinken.
Die Tochter will der Mutter wohl glauben, daß sie ihrem Vater diese Szene nie vergessen konnte. Doch reden will sie mit ihr darüber nicht. Es gehört sich nicht, spürt sie, daß sie die Scham des Kindes nachempfindet, das später ihre Mutter werden soll.
Andererseits, wenn von glücklicheren Vorfällen die Rede ist, muß sie ihren brennenden Neid
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