Kindheitsmuster
und eine Abzählung ergeben hat, daß keiner fehlt: Pustekuchen, Enkelkinder! Es ist doch klar wie Schifferscheiße, daß sie die beiden verzaubert hat. Eines Tages mach ich mich bei und hol die da raus.
Zu Hause kraucht Nelly in die Höhle, die Bruder Lutzsich aus Decken unter dem Tisch gebaut hat, und bringt ihm ein neues Gedicht bei, nachdem er hoch und heilig geschworen hat, daß er es niemals laut aufsagen wird: Haste nicht ’nen Mann gesehn, mit ’ner blauen Jacke, hinten guckt das Hemde raus, mit ’nem Zentner Kacke.
Nelly ist sich darüber klar, daß sie in mehrere Kinder zerfällt, zum Beispiel in ein Vormittags- und ein Nachmittagskind. Und daß die Mutter, die das sauber gewaschene Nachmittagskind an die Hand nimmt, um mit ihm an einem ihrer seltenen freien Nachmittage konditern zu gehen, von dem Vormittagskind nicht die blasse Ahnung hat. In der Richtstraße bleibt sie mit ihrer Tochter stehn: Kannst du die Schrift da drüben schon lesen, Nelly? Nelly weiß sowieso, wie jenes Café heißt, und »liest«, anstandshalber stockend: Kon-di-to-rei Staege. Fein. Die Mutter setzt sich mit ihrer klugen Tochter an eines der kleinen runden Marmortischchen, genau neben den Holzkübel mit der staubigen Palme, bestellt bei Frau Staege persönlich Liebesknochen und Kakao, zur Belohnung für meine Tochter hier, die Nelly. Der schmeckt es, als hätte sie es verdient.
Daß Nelly Herrn Warsinski am nächsten Vormittag, als er Gefühlswörter hören will, und zwar um ein für allemal diesen Heckmeck mit der Groß- und Kleinschreibung aus der Welt zu schaffen, »Verstellung« als Gefühlswort anbietet, erfährt Charlotte Jordan nicht, aber es ist die Wahrheit. Überhaupt war Herrn Warsinskis Test eher ein Reinfall. Daß Gundel mit »Fröhlichkeit« sogleich ins Schwarze traf, war zu erwarten gewesen. Die Offizierstochter Ursel nannte »Gehorsam«, das war schon etwas zweifelhaft, während Lori Tietz, die Tochter des Nudelfabrikanten, mit »Bescheidenheit«glatt durchging. Nun brachte aber Ella Busch »Armut« an. Armut als Gefühlswort. Armut ist ein Zustand und kein Gefühl. Armut, sagte Lieselotte Bornow, die Schneiderstochter, Armut ist ein Gefühl, und man kann sie auch sehen, riechen und schmecken. Aber nein doch. Armut kann man nicht eigentlich sehen oder anfassen; ein Gefühl ist es auch nicht, aber groß geschrieben wird das Wort trotzdem, weil man nämlich »der«, »die« oder »das« davorsetzen kann. Mit »Angst« hatte Christel Jugow Glück. Nun wollte Herr Warsinski aber gerne noch »Mut« hören, »Tapferkeit« und »Treue«. Da muß Nelly »Verstellung« anbringen. Eine einzige Enttäuschung wieder mal. Seine Lieblingswörter schreibt Herr Warsinski am Ende eigenhändig in deutscher Sütterlinschrift an die Tafel.
Das Gedächtnis wird seinen Grund haben, auf ein gewisses Stichwort hin unerwartete Bilder anzubieten. Das Häuserspiel ist belegt – auch Lutz, der höchstens vier Jahre alt war, als es in Blüte stand, hat eine dunkle Erinnerung daran bewahrt. Daß es unter dem Kennwort »Die Verstellten« lief, ist dir eben erst wieder eingefallen. Ein veritables Puppenhaus mit vier Räumen, Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad, mit Gardinen an den Fenstern und sehr kleinen Blumentöpfchen davor, mit Lämpchen an der Decke und mit Tellerchen und Täßchen in einem Schränklein und mit einem hübschen kleinen Schornstein auf dem roten Dach. Das Haus wird von sieben Zelluloidpüppchen bewohnt, die in bunte Fetzchen hübsch gekleidet sind und allerliebste Namen haben: Leierkasten, Fallada, Eierkuchen, Holderbusch, Liebesperle, Rosenduft und Wundertüte – angemaßte Namen, wie sich gleich herausstellenwird. Denn alle sieben sitzen sie im Häuschen und singen mit ihren zirpenden Stimmchen frech: Hanne-fatzke Domino, hat geschissen und weiß nicht wo, in der Ecke stinkt es so, da hat geschissen Hannefatzke Domino.
Eine Provokation. Nelly und Lutz stürzen zum Puppenhaus. Die Verstellten sind schon verstummt und gehen ihrem eigentlichen Gewerbe nach, sich zu verstellen. Nelly und Lutz, die sie natürlich bis auf den Grund durchschaut haben, schütteln sie durch und nennen sie bei ihren wirklichen Namen: Rippenspeer und Eulenzeh, Flederbiest, Ekelkotz, Fratzenhans, Blödian und Schinderbold. Da gibt es ein Heulen und Zähneklappern. Für die Bestrafung gilt aber ein Grundsatz: Verstellte werden verstellt. Arme und Beine umwickelt man ihnen fest mit Wollfäden, man schleudert sie in irgendeine Ecke, und
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