Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Ekelkotz muß seinen Kopf ins Klosett stecken. Alles Eßbare wird aus dem Haus geschafft. Lutz, der die Batterieanlage bedient, ist für strengste Stromsperre verantwortlich. Die offene Rückwand der »Villa Hundsfott« wird mit Korkplatten aus »Meister Hämmerlein« zugenagelt. Schwarze Lappen verhängen die Fenster. Drinnen aber, die dreisten Unbelehrbaren, singen im Kanon: O wie wohl wird mir am Ahabend, mir am Ahabend, wenn zur Ruh die Glocken läuhäuten, Glocken läubäuten, bimbam, bimbam – während draußen der Chor der Rächer schauerlich heult: Bereuet!
    Das tun die Verstellten erst nach Stunden, und dann werden sie unter heißen Tränen ans Herz gedrückt. Danach aber gehen sie von offenen Untaten zu den Gedankensünden über, die allerdings der klugen Nelly im gleichen Augenblick, da sie verübt werden, schon bekanntsind: Gib zu, du hast Böses über mich gedacht! – Gnade! flehen die Überrumpelten. – Lügen ist zwecklos! – Hexenfuß windet sich, bis er jammernd zugibt, daß er auch Nelly für eine Verstellte hält. Hexenfuß wird zu lebenslänglicher Haft im Schuhkasten verurteilt.
    Die Fahrt vom Bahnhofshotel bis zum Galgenberg dauert auch bei gedrosseltem Tempo nicht länger als fünf Minuten. Die Familie Jordan, die sich im Frühjahr des Jahres 1935 zu ihrem ersten Gang vom Sonnenplatz zum Galgenberg rüstet, wird vierzig Minuten brauchen. Im Begriff, diesen Weg zu beschreiben, siehst du dich zu einer langen Pause innerhalb dieses fünften Kapitels gezwungen. Verantwortlich für sie ist die Nachricht vom Tod jenes M., des Deutschlehrers, der in einem vorher nicht erwarteten Sinn das Wort »Verstellung« erneut aufbrachte.
    Daß M. sich an jenem letzten Abend verstellen mußte – es war Mittwoch, der 31. Januar 1973 –, als er, gemeinsam mit seiner um vieles jüngeren Freundin, einer ehemaligen Schülerin von ihm, nach langer Zeit überraschend kam, um ein geborgtes Buch zurückzubringen (Musil: »Der Mann ohne Eigenschaften«), lag in der Natur der Sache. Er hat gewußt, daß es der letzte Abend seines Lebens war. In dem Anorak, den das Mädchen draußen im Flur anhängte, muß der Brief gesteckt haben, den sie noch am gleichen Abend abschickten: Sie könnten sich nicht aufhalten, sie müßten noch zur Post. Der letzte Satz des Briefes, der übrigens keine Erklärung der Tat, nur eine nüchterne Abrechnung ihrer finanziellen Hinterlassenschaft enthielt, lautete: Wenn Ihr das lest, leben wir nicht mehr. Geheuchelt – wenn man das so nennen kann – war also M.s Interesse an eurem neuenBild, das er mit Recht »unheimlich« nannte. Dieser Aufmarsch der Pappeln, sagte er. Über das Blau, das, wie er ja wußte, auch deine Farbe ist, machte er eine kurze Bemerkung. Fraglich bleibt, wieso er Kleist erwähnte und die Fernsehsendung vom Vorabend, in der, auch nach seiner Meinung, der Doppelselbstmord des Kleist und der Frau Henriette Vogel schlecht dargestellt war, verlogen, sentimental. Hat er den Verdacht abwehren wollen, daß seine spätere Tat von jener Sendung, die seinem Geschmack nicht genügt hatte, mitbestimmt worden war? Oder wollte er einen Hinweis auf große Vorbilder hinterlegen, dort, wo er damit rechnen konnte, der Hinweis würde nachträglich verstanden werden?
    Er hätte sich verrechnen können. Merkwürdig genug: Gerade dieser Teil eures kurzen Gesprächs entfiel dir. Achtundvierzig Stunden lang, nachdem du die Nachricht von dem Doppelselbstmord empfangen hattest, konntest du steif und fest behaupten, an jenem letzten Abend habe es nicht die Spur einer Andeutung auf seine Absicht gegeben. Am Montagmorgen erst, als du an dem Haus vorbeikamst, in dem er ein Zimmer bewohnte (und von dessen Gartentür er sein Namensschild am letzten Nachmittag noch eigenhändig abgeschraubt hat) – erst da fiel dir der Name Kleist wieder ein, gebunden an den Klang der spröden, spöttischen Stimme von M.
    M. lispelte leicht. Die Tabletten, die die Freundin vielleicht aus der Klinik mitgebracht hatte, in der sie arbeitete, hatten schon angefangen zu wirken, obwohl sie noch in einer der Schubladen seines Zimmers lagen. Aus großer Entfernung hat er mit euch über die Psychologie seiner Schüler gesprochen, über die Ursachen jenerweitverbreiteten Erscheinung, die er »Leistungsunwillen« nannte. Und ihr, die ihr euch hinterher sagtet: Nicht dumm, der M., und macht sich Gedanken! – ihr konntet oder wolltet nicht merken, daß er gerade das aufgegeben hatte; daß er nur noch dasitzen konnte und

Weitere Kostenlose Bücher