Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Ergebnisse hervorbringen, die weder ihn noch irgend jemanden verändern sollten. – Hat er innerlich gekichert, als die Freundin, die um mehr als zwanzig Jahre Jüngere, den Wermut ablehnte: sie sei Antialkoholikerin? Übrigens solle man doch nicht schon wieder über die Schule reden.
    Sie war zum zweitenmal nicht zum Medizinstudium zugelassen, obwohl sie alle Voraussetzungen glänzend erfüllte. Beide sprachen sie nun abwechselnd, spöttisch und ohne sich zu erregen, über die undurchsichtige Handhabung der Zulassungsbestimmungen. Die Empörung, die du äußertest, lag hinter ihnen. Nein, weitere Eingaben würden sie nicht machen. Sie sagten noch ja und nein an den Stellen, an denen man es von ihnen erwarten konnte, aber im stillen dachten sie wohl: Die Dummen. Oder: Die Armen. Oder: Die armen Dummen.
    In dem Musil, den er zurückgebracht hatte – es war eines seiner Lieblingsbücher –, fandest du, erschreckt von dem Gedanken, er könne als letzten Rettungsversuch eine Botschaft zwischen die Seiten gelegt haben, am zweiten Tag nach seinem Tod einige Anstreichungen, die nur von ihm sein können, unter ihnen folgenden Satz, mit Ausrufungszeichen am Rand markiert: »Man hat nur die Wahl, diese niederträchtige Zeit mitzumachen (mit den Wölfen zu heulen) oder Neurotiker zu werden. Ulrich geht den zweiten Weg.«
    Du mußt dir sagen, auch dieser Satz, wenn du ihngleich gefunden hättest, hätte dich nicht veranlaßt, alles stehen- und liegenzulassen, die zwei Minuten bis zu seiner Wohnung zu rennen – im Laufe des Donnerstags, bis Donnerstag abend, als es noch Zeit gewesen wäre –, Sturm zu läuten, dir auf jegliche Weise Einlaß zu verschaffen und, auf die Gefahr hin, dich lächerlich zu machen, das Schlimmste zu verhindern. Zu perfekt hatte seine Verstellung funktioniert, die ihren Höhepunkt beim Abschied erreichte. Das Buch, sagte er, habe er so lange bei sich stehenlassen, um abzuwarten, ob er nicht doch noch einmal Lust darauf bekäme. – Es folgte eine Reihe von Sätzen im Konjunktiv: Wenn es dir zu lange gedauert hätte, sagtest du, hättest du es dir geholt. – Darauf lachte er sparsam und meinte, also hätte er ruhig abwarten sollen, wie lange du ihm noch Zeit gelassen hättest. – Auf der Treppe ließ er Ruth grüßen, seine ehemalige Schülerin, die du ja gewiß eher sehen würdest als er. (Als er, der wußte, daß er sie überhaupt nicht mehr sehen würde.)
    Da traf seine Verstellung genau auf die deine. Du machtest eine scherzhafte Bemerkung, während du dachtest, das Mädchen habe ihn nun wohl doch von seinen Selbstmordphantasien abgebracht. So hatte er dich sehen machen, was du sehen wolltest, und dies ist das Wichtigste, was Verstellung erreichen kann. Den zu täuschen, der die Wahrheit nicht fürchtet, das vermag sie auf die Dauer nicht. Da aber jeder irgendeine Wahrheit zu fürchten hat, werden die Verstellungen des einen meist auf die Verleugnungen des anderen passen, und dies ist dann, was man Zueinander-Passen nennt. In diesem Sinne, nimmst du nachträglich an, hat jenes Paar, als es den Tod suchte, zueinander gepaßt.
    M. mag nicht erwartet haben, daß nach der ersten Betroffenheit, nach dem Schreck eine Nachricht wie die von seinem Tod Lebenslust auslösen kann, später Zorn. Ganz richtig hat er den Unterschied gespürt zwischen deiner gelegentlichen Verzweiflung und seiner andauernden Unfähigkeit, das Leben zu ertragen: Immer, wenn er kam, fand er deinen Tisch mit frisch beschriebenen Blättern bedeckt, während er lange schon seine Nachmittage untätig verbrachte und, abgeschirmt durch seine großen Kopfhörer, liegend Musik hörte. Er kam nicht mehr, jetzt weißt du, warum. Dem Zweifel an der Verzweiflung hat er sich nicht mehr aussetzen wollen oder können. Sein Lächeln, wenn du ihm begegnetest, war, von heute aus gedeutet, das Lächeln für eine Abtrünnige, die nicht bis zuletzt durchhält. Mitleid für einen, der auf die absolute Einsicht nicht angemessen, das heißt: mit absolutem Unglauben antworten kann. Unzweifelhaft ist, daß er sich an jenem letzten Abend gefragt hat, wie das Ereignis, über das nur er verfügte und niemand sonst, auf dich wirken werde. Vielleicht war ihm sogar bewußt, daß ein Element von Eitelkeit in diesem Abgang von einer Bühne lag, auf der die Rolle, die zu ihm gepaßt hätte, ihm nicht angeboten wurde. Zu stolz für Appelle an anderer Leute Mitgefühl, mag dies sein letztes Mittel gewesen sein, sich Herrschaft über sie zu verschaffen, und sei es

Weitere Kostenlose Bücher