Kindheitsmuster
ein beigefarbener Wandanstrich. Gesichert die Wipfel der drei Linden vor den Fenstern. Die Klasse muß im zweiten Stock gelegen haben, nach vorne hinaus, zur Adolf-Hitler-Straße. In der Ecke gleich neben der Tür der Eisenständer mit der Emailleschüssel, in der sich niemals jemand die Hände wusch, in die man aber die Silberpapierkugel legte, die man die Woche über zusammengebracht hatte: für die Buntmetallsammlung lauter kleine Stanniolkugeln, die Herrn Warsinskis Lieblingsschülerin am Montag in der ersten Stunde (Religion) auseinanderzerren durfte. Auf den Bänken brennen, falls gerade Winter ist, die blauen Kerzen des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland. Herr Warsinski ist davon überzeugt, daß Jesus Christus, wenn er noch einmal auf unserer Erde wandeln sollte, ein Anhänger unseres Führers wäre. Im Vorbeigehen legt Herr Warsinski seine Hand auf manche Schulter. Auf die von Gundel Neumann sowieso, aber auch auf die von Usch Gaß, ihrer Freundin, deren Vater Rechtsanwalt ist, sogar auf die von Lori Tietz, der Tochter des Nudelfabrikanten, der er ein neues Rezept zur Herstellung von Makkaroni empfiehlt: Einfach ein Loch in die Luft bohren und den Nudelteig drum rumwickeln. Niemals legt er auf Nellys Schulter seine Hand. Wer hilfsbereit zu ärmeren Volksgenossen ist, hilft dem Führer. Kling, Glöckchen, klingelingeling, singt die Klasse. Mädchen, ihr, und Buben, öffnet mir die Stuben, öffnetmir die Türen, laßt mich nicht erfrieren. – Die Mutter von Nelly Jordan zum Beispiel hat der Mutter von Ella Busch getragene Sachen von Nelly geschenkt, das ist ein gutes Werk.
Unter die Bank kriechen kann man nicht. Ella Busch, die Nelly bis jetzt mit Freundschaftsangeboten verfolgt hat, organisiert für den nächsten Mittag zusammen mit ihren Brüdern vor der Knabenvolksschule am Schlachthof einen Überfall auf Nelly. In die Schneebälle, die als Wurfgeschosse dienen, sind Steine eingeknetet. Nelly weiß, sie muß durch. Sie schnallt sich die Schulmappe vor die Brust, hält die Brottasche über den Kopf und durchbricht mit gräßlichem Gebrüll die Sperre. Ein anwesender Lehrer der Knabenvolksschule stellt Nellys Personalien fest. Drei Tage später wundert sich Herr Warsinski vor der Klasse, daß ein Mädchen wie Nelly sich auf eine Prügelei mit Jungen einläßt. Gundel, die wieder mal bei der Waschschüssel mit dem Stanniolpapier beschäftigt ist, streckt Herrn Warsinski die Zunge raus. Es gibt immer welche, die kichern müssen, und auch immer welche, die ihren Mund nicht halten können. Zum Beispiel die käsige Ursel, Offizierstochter. Gundel hat Ihnen die Zunge rausgestreckt, Herr Warsinski. – Nelly hebt den Arm: Nein, mir!
Gundel wird auf ihren Platz verwiesen, Nelly darf an die Waschschüssel. Gundel zeigt der Nelly hinter Herrn Warsinskis Rücken einen Vogel. Von dem Platz an der Waschschüssel hat sie sich auch zuviel versprochen. In der Pause versichert sie Gundel, sie habe sie raushauen wollen. Danke für Backobst, sagt die und geht mit Usch davon.
Diesmal warten Ella Buschs Brüder vor der Knabenvolksschule,um Nelly zu Schneewittchen mitzunehmen. Freddie Schwalbe, genannt »die Schwalbe«, ist wie immer Anführer. Zu Nelly, die ihn bewundernd anstarrt, sagt er, ob sie noch keinen Menschen gesehen hat. Ella Buschs Brüder schreien: Mensch, du mußt in ’n Kintopp gehn, Mensch, da kannste Menschen sehn. – Extratouren verbittet die Schwalbe sich.
Das winzige Hexenhaus liegt in dem kleinen Querweg neben der Gasanstalt, den Nelly bisher gemieden hat, weil es vorkommt, daß einzelne Kinder beim Vorübergehen von Schneewittchen, der Hexe, ohne weiteres verzaubert werden. Mit der Schwalbe zusammen ist es etwas anderes. Ich übernehme die Verantwortung, sagt er. Das Hexenhäuschen ist windschief und häßlich, es hat eine kleine Brettertür und zwei winzige Fensterluken, hinter denen die Töpfe mit jenem Grünzeug stehn, aus dem Schneewittchen ihre Zaubertränke braut. Alle versammeln sich in gebührender Entfernung, die Schwalbe macht den Vorsänger: Hexe, Hexe Kau-kau, alte dreckche Sau, Sau. Dann schrein alle im Takt: Schnee-witt-chen! Dreimal. Da fährt auch schon die klapperdürre Alte aus der Tür und schwingt den Besenstiel. Und hinter den grünen Töpfen am Fenster erscheinen zwei Köpfe: der vom blöden Alwin und der von der dummen Edith, Schneewittchens Enkelkinder. Enkelkinder! keucht die Schwalbe, als sie sich nach wilder Flucht alle wieder auf der Friedrichstraße versammelt haben
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