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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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aufgerichtet, auf der rostfarbenen geblümten Couch die Kinder. Wir haben immer gut zusammen gelebt.
    Lenka, nicht sonderlich interessiert an der Ehe ihrer Großeltern, hätte doch aufgehorcht bei dem Wort »Vagabund«, aber es wurde ihr nicht mitgeteilt. Alles kann und soll nicht gesagt werden, darüber muß Klarheit herrschen. Wohin auch das Wort noch vordringen mag, man soll sich nicht vornehmen, alles zu sagen, was sich benennen ließe, damit in der Zone der unausgesprochenen Wörter Scham und Scheu und Ehrfurcht sich halten können.
    Es scheint erwiesen, daß Kinder nicht alles aus dem Leben ihrer Eltern zu wissen wünschen. Nelly, überdurchschnittlich neugierig und ihre ganze Kindheit über gezwungen, diese kostbare Eigenschaft zu verstecken – sogar vor sich selbst, so daß sie in Gefahr kam, verlorenzugehen –, hatte nicht die mindeste Lust auf Enthüllungen, die ihre Eltern in ihren Augen hätten herabsetzen können. Sie litt, wenn die Stimmungen, die ihre Mutter immer häufiger befielen und die sich immer häufiger gegen ihren Vater richteten, über den Rahmen der engeren Familie hinausdrangen, in dem sie geduldet und verschwiegen werden konnten. Wenn – was vorkam! – sich Tante Liesbeth und Tante Lucie in Jordans Herrenzimmer um die weinende Charlotte bemühten, während oben an Schnäuzchen-Omas Kaffeetisch alle darauf warteten, daß die Geburtstagsfeier losgehn konnte. Sie kommt und kommt einfach nicht. Ein Achselzucken rund um den Tisch, ehe man mit dem Kaffee-Eingie-ßenbegann, ehe Tante Liesbeth, die noch fröhlich und natürlich sein konnte, ihre Nichte Nelly ermunterte, nicht so ein Gesicht zu ziehen und ihr Gedicht aufzusagen. Daß Nelly also aufstand und loslegte: Liebe gute Omama, heute bist du fünfundsechzig Jahr ...
    Das hat sie nun selber verfaßt, es ist beinah nicht zu glauben.
    Charlotte Jordan hält es aus, mit ihrem Mann tagelang kein Wort zu sprechen, oder nur das Nötigste. Geschäftliches, und das in einem eisigen Tonfall, den Nelly mehr fürchtet als alles, was sie kennt. Ein dutzendmal, während der Morgen vor der Schule in diesem Schweigen vergeht, das die Eltern gegeneinander, nicht aber gegen die Kinder wahren, so daß unnatürliche Partnerschaften sich ergeben; während die große Szene endlich doch stattfindet, die zum Anlaß nicht mehr braucht als einen verlorenen Handschuh, ungeputzte Schuhe, Liederlichkeit der Kinder; wenn dann endlich die Haustür hinter ihr zufällt: Ein dutzendmal schwört Nelly sich, ihren Kindern dies nicht anzutun. (Ein dutzendmal schluckst du das heftige Wort hinunter, das dir am frühen Morgen auf der Zunge liegt gegen die unermeßliche und untilgbare Unordnung der Kinder – das Wort, ja. Aber nicht die Gereiztheit, die sich ihnen mitteilt. Gegen die sie allerdings, anders als Nelly, aufbegehren können; Nelly mußte entweder schweigen oder frech werden.)
    Warum lieben eigentlich Eltern ihre Kinder? fragt Lenka. Ausgerechnet jetzt, ausgerechnet hier. Ihr steht immer noch am Rande der Schlucht; vier, fünf Minuten, mehr sind ja nicht vergangen. Dir fällt auf, daß H. noch kein Wort gesprochen hat. Du sagst: Frag deinenVater. H. greift seiner Tochter ins Genick, schüttelt sie. Aus Egoismus, Kaninchen. – Klar, aber sonst noch? – Wann ist Nelly auf solche Fragen gestoßen? Über die Maßen spät. Elternliebe war unantastbar wie Gattenliebe.
    Lutz möchte seiner Nichte einen historischen Abriß der Entwicklung von Elternliebe geben. Liebe, sagt er zu Lenka, hat ja einen ganz bestimmten Sinn in einem ganz bestimmten Entwicklungsstadium der Gattung. Wir sind daran gewöhnt und halten sie für »natürlich«. Aber denk doch nicht, daß Elternliebe sich entwickelt hätte, wenn die Menschheit dadurch dezimiert worden wäre.
    Und warum begraben die Elefanten ihre Toten an ihrem Heimatort? fragt Lenka. Sie hat es selbst im Fernsehen gesehen: Ein toter Elefant wird von seiner Herde oft viele Kilometer weit zum Begräbnisplatz der Sippe geschleppt und dort unter einem bestimmten Zeremoniell begraben. Wem nützt das? Ist das nun tierisch, oder was? Was glauben die Elefanten?
    Lutz ist überzeugt, daß man den Ursprung dieses tierischen Instinkts schon noch entdecken werde. Lenka solle sich nicht in übernatürliche Deutungen verrennen.
    Seit wann ist Elternliebe so eng mit Angst verkoppelt? Erst seitdem jede neue Generation leugnen muß, woran ihre Eltern geglaubt haben?
    Bruder Lutz, der einem so ausgefallenen Jahrgang angehört, daß er mitten in

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