Kindheitsmuster
am Ende des Weltkrieges das deutsche Volk verraten? bietet sie Herrn Warsinski ein selbstgemachtes Gedicht an. Was? sagt Herr Warsinski, dessen Augen immer noch nicht die rechte Wärme ausstrahlen, wenn sie Nelly anblicken: Das hast du doch nicht selber gemacht! Das hast du doch aus der Zeitung abgeschrieben! (Von Feinden umringt war das deutsche Volk / beim großen Weltenbrand, / doch unser tapferer deutscher Soldat / ließ keinen Feind ins Land. / Da wurde durch schnöden Judenverrat / mit Deutschland Frieden geschlossen ...) Ungewollte Aussage über die Qualität der Zeitungsgedichte und über Herrn Warsinskis Geschichtsunterricht. (Reime bewahrt das Gedächtnis treulich und lange.) Donnerwetter! sagt Herr Warsinski. Allerhand. Nun stell dich mal hierher und lies das laut vor. Daran könnte sich mancher ein Beispiel nehmen.
Nelly steht unter einem Spruchband, das eine höhere Klasse im Zeichenunterricht als Schriftprobe für Antiqua hergestellt hat: »Ich bin geboren, deutsch zu fühlen / Bin ganz auf deutsches Denken eingestellt / Erst kommt mein Volk, dann all die andern vielen / Erst meine Heimat, dann die Welt!« – Ja, sagt Herr Warsinski wehmütig. Soweit sind wir noch lange nicht. DieMenschen sind für das Vollkommene nicht geschaffen. Nelly und ihre Freundin Hella Teichmann, die so glücklich ist, einen Buchhändler zum Vater zu haben, werden sich in der Pause einig: Sie wollen die Vollkommenheit erleben. Es schreckte sie nicht. Neue Menschen wollen sie sein.
Endlich kamst du drauf: Der Geruch. Lutz, wie riecht es hier? Lutz grinste: Längst gemerkt. Wie früher. – Der alte Sommergeruch über Schlucht und Sandberg und Jordans Garten, in dem Nelly lesend in der Kartoffelfurche liegt, und die Eidechse kommt, sich auf ihrem Bauch zu sonnen, und sie denkt, oder fühlt (jedenfalls glaubtest du, das habe sie damals gedacht oder gefühlt): Wie es jetzt ist, wird es nie wieder sein. Wenn man das beschreiben könnte, dachtest du, langsam hinter den anderen am Rand des Hügels zum Schluchtinnern hin gehend. Wie sie hier zu Hause war. Wie sie oft, irrsinnig vor grundloser Freude, den Sandberg rauf- und runterrennen mußte. Oder sich an Schnäuzchen-Omas Wohnzimmerfenster stellen und lange über die Stadt sehen, bis hin zur Flußniederung, wenn es dunkel wurde. Oder sich auf dem Bauch in eine flache, von der Sonne durchglühte Kuhle legen, hier in der Schlucht, und den Körper und das Gesicht gegen die trockene, bröcklige Erde und das harte Gras pressen, aus dem dieser Geruch kam, den du später nie wieder gerochen hast. Oder die Wolken. Im Kornfeld auf dem Rücken liegen und in die Wolken sehen. Nellys Körper, der ihr fremd war, hatte sich eingenistet und gab dem Kopf Signale, die sich zu dem Satz verdichteten: Hier will ich nie weg.
Gefällt’s dir denn, Lenka? – Dochdoch, ja. – Höflichkeit der Kinder.
Wo sie gerade geht, Lenka, hat Nelly, an ihre Mutter gelehnt, in jener Juninacht gestanden, als der Hitler-Jugend-Standort seine Sonnenwendfeier veranstaltete. Fackelschnüre auf allen Hügelrändern, ein Holzstoß, der plötzlich hoch aufloderte, und der Schrei aus vielen Kehlen. »Deutschland, heiliges Wort / Du voll Unendlichkeit.« (Die Information über die Programmfolge stammt aus dem 36er Jahrgang des »General-Anzeigers« in der Staatsbibliothek, die Bilder – »Fackelschnüre«, »lodernder Holzstoß« kommen aus dem Gedächtnis.) Das Motto der Feierstunde lautete: »Glühen wollen wir, daß wir in unseren Werken noch kommenden Geschlechtern Wärme geben.« Und der Gebietsführer erklärte, es genüge nicht mehr, zu rufen: Deutschland, erwache! Jetzt müssen wir rufen: Europa, erwache! – Als Nelly fror, wickelte ihre Mutter sie in ihre warme Jacke. Zum Schluß hat sie vor Müdigkeit geweint, weil »das alles zuviel für sie war«. Sonst weinte sie selten. Ein deutsches Mädel weint nicht.
Aber es geht ja darum, ob einer hassen kann oder nicht. Nelly mußte Gewißheit haben, mochte die noch so schmerzlich für sie sein. Unvermutet verschaffte der Abend nach der Geburtstagsfeier bei Lori Tietz ihr Klarheit.
Zuerst muß sie hingehen, obwohl sie sich drücken möchte. Was hast du eigentlich gegen die? – Die sind komisch. – Auch ein Grund!
Die technischen Einzelheiten schon! Was Nelly anziehen, was sie Lori Tietz schenken sollte. Ein Buch? – Die liest nicht. – Na hör mal! – Nelly merkte es ja doch, daß der Mutter an der Geburtstagsfeier bei Tietzens mehr lag als an jeder anderen
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