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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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erstenmal in ihrem neuen Kinderzimmer erwachte. Die Sonne schien auf die Blumentapete, die sie selbst aus dem Musterbuch mit ausgesucht hatte und die du bis heute aufzeichnen könntest; da dachte sie – und wiederholte es laut: Jetzt fängt ein neues, schönes Leben an.

6
    Es ist der Mensch, der sich erinnert – nicht das Gedächtnis. Der Mensch, der es gelernt hat, sich selber nicht als ein Ich, sondern als ein Du zu nehmen. Ein Stilelement wie dieses kann nicht Willkür oder Zufall sein. Der Sprung von der dritten Person in die zweite (die nur scheinbar der ersten nähersteht) am Morgen nach einem lebhaften Traum.
    Er spielte – lange nach jenem Sommerbesuch in L. – in einer Stadt, die deine Heimatstadt nicht war, sie aber sein sollte, das wußtest du im Traum. Die Stadt ist unordentlich, im Umbruch, so, wie du sie vorgefunden hast. Du kaufst etwas, trägst es in einem Netz, schöne gelbe Äpfel. Ein Mann kommt und wirft dir vor, du habest ein Ding unterschlagen, das dir zur Aufbewahrung übergeben worden sei. Du beteuerst, du habest es »woanders« hinterlegt. Der Mann ist nicht unfreundlich, er will dich nicht demütigen. Er hat blondes, welliges Haar. Du kannst ihm nicht böse sein, daß er dich verdächtigt. Du begreifst: Dies ist sein Amt. Gemeinsam geht ihr durch ein verwahrlostes Gehölz. Ein Polizist mit weißer Mütze springt brutal mit einer alten Frau um, die Holz gestohlen haben soll, einen einzigen Ast. Dein Begleiter weist dich darauf hin, wie schon ein geringer Diebstahl der Ordnung halber schwer geahndet werden muß – und nun erst deine ernste Unterschlagung! Du nickst. Du führst ihn in ein großes, graues, quadratisches Haus, das am Rande des schütteren Gehölzes liegt: So waren Wälder bei Kriegsende verwüstet. Dort gibt es eine Art Garderobe und eine Frau,die sich lautstark mit einer anderen unterhält, über Alltagsdinge. Den Gegenstand, nach dem du fragst, will sie absolut nicht kennen. Du bestehst verzweifelt darauf, daß du ihn hier aufbewahren läßt. Schließlich zeigt sie auf ein Netz, in dem außer ein paar eingewickelten Päckchen eine schlanke schöne Flasche ist. Ja, das! rufst du, unendlich erleichtert, obwohl dir dunkel bewußt ist, daß du etwas anderes gesucht hast. Auch dein Begleiter ist zufrieden. Er hält die Flasche gegen das Licht: Sie ist hellgrün und durchsichtig, rein und makellos, daß es dich schmerzt. Sehen Sie, sagt der Begleiter, das war eine echte Erinnerungslücke! – Wie froh du bist, für alles eine Erklärung zu haben, die dich entlastet und mit der du übereinstimmen kannst.
    Die Schlucht. Nelly, deren Spielfeld dieser Hügelrand, dieser mit Gras bewachsene und von Eidechsen bewohnte Abhang gewesen ist, scheint eine Neigung zu haben, sich zu verkriechen und die Schauplätze zu fliehen, auf denen sie zu finden man hoffen konnte oder fürchten mußte. Dir ist jetzt klar, warum du sechsundzwanzig Jahre lang nicht erpicht gewesen bist, hierherzukommen. Unausgesprochene und uneingestandene Vorwände – Heimatverlust, möglicher Wiedersehensschmerz – hielten nicht länger stand. Du scheutest eine Begegnung, die unvermeidlich sein würde. Vielleicht sind es nicht die beneidenswerten Leute, die das nicht kennen: Verlegenheit gegenüber einem Kind.
    Bis hierher, bis zu diesem Haus hattest du dich vorgearbeitet, nicht in gerader Linie, sondern scheinbar ziellos, im Zickzackkurs, um das Kind – womöglich mit Hilfe eines Gedächtnisses, das, hilflos dem Anprall von Einzelheiten ausgesetzt, erstaunliche Nebensächlichkeitenauszuliefern beginnt – »in den Griff« zu kriegen. Hier aber mußtest du einsehen, daß du nie wieder sein Verbündeter sein konntest, sondern ein zudringlicher Fremder warst, der nicht eine mehr oder weniger markierte Spur, sondern am Ende es selbst verfolgte: Sein inneres, niemanden sonst betreffendes Geheimnis.
    Es war kein Spiel mehr, und dir sank der Mut. Das Kind würde, wenn du darauf bestündest, aus seinem Versteck hervorkommen. Es würde sich Schauplätzen zuwenden, auf die du ihm ungern folgtest. Du hättest ihm auf der Fährte zu bleiben, rücksichtslos seine vollständige Einkreisung zu betreiben, während der Wunsch, sich von ihm abzukehren und es zu verleugnen, in dir immer stärker werden würde. Der Weg, den du eingeschlagen hattest, war durch Verbote versperrt, die niemand ungestraft verletzt.
    Es war einer jener Momente vollkommener Klarheit, die wir schätzen, sogar suchen müssen – selbst dann, wenn aus der Suche

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