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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Unterminieren die Kriege in anderen Teilen der Welt, in die der Brennpunkt der Weltgeschichte sich verlagert hat, nun doch die Ruhe der wenig Betroffenen? Das wäre ein Fortschritt. Oder genügten – was wahrscheinlicher ist – die Spannungen auf unserem eigenen Erdteil, auch wenn sie nur zum kalten, nicht zum heißen Krieg führten, ein dauerndes Gefühl von Gefahr in uns wachzuhalten?
    Es war ein Fehler, sich auf einen Winterurlaub in diesem bekannten Reisebüro-Heim einzulassen. Für vierzehn Tage festsitzen inmitten von Leuten der gehobenen Mittelklasse, inmitten von Familien, deren Väter mit »Herr Professor« anzureden sind, deren Mütter Westtextilien tragen, die sich miteinander langweilen und eine mörderische Sterilität ausstrahlen. Nachts träumst du, daß du mit dem Auto durch eine saubere, viereckige Stadt fährst in den Farben Weiß und Rot, daß du überall in Sackgassen gerätst, schließlich tief verschneite Gebirgsstraßen hinaufkurvst, ins Schleudern kommst, am Ende mit den Vorderrädern über einem Abgrund hängst.
    Was soll nun dieser Traum in diesem friedlichen Tal, unter diesen friedlichen Leuten? Am Morgen steht die Todesnachricht, auf die du gewartet hast, in der Zeitung, nun doch zu früh. Du wiederholst dir, was B., die jetzt tot ist, vor fünf Tagen zu dir gesagt hat. Optimistische Trauer, sagte sie, ob so etwas möglich wäre? Du warst nicht bei der Sache, weil du wußtest, daß du sie zum letztenmal sahst.
    H. willigt ein, in die Stadt zu fahren. Er läßt dich allein losgehen, verliert kein Wort über die sinnlosen Einkäufe, die du gemacht hast. Kleid, Bluse, Handtasche. Dein Genuß, in einem durchschnittlichen Café zu sitzen. Auf der Rückfahrt der Genuß an den unendlich vielen verschiedenen Schattierungen von Grau am Himmel. Du bemerkst sie, weil du lebst. Du schläfst ein und erwachst mit dem Gedanken an ihren Tod, aber du lebst.
    Friedenszeiten. Als es uns gut ging. Friedensware: Wollstoff ohne Holzstückchen drin. Als ein Pfund Zucker achtunddreißig Pfennig kostete, ein Stück Butter eine Mark, und als die Bananen einem hinterhergeschmissen wurden. Als Bruno Jordans dickes Anschreibebuch zu einem dünnen Heft zusammengeschmolzen war, in das kaum noch zahlungsunfähige, sondern nur vergeßliche Kunden eingeschrieben wurden. (Am 12. Mai 1937 ist die Zahl der Arbeitslosen im Reich auf 961 000 gesunken.) Als man zum Backen nur gute Butter nahm.
    Vergessen ist: Die Bewirtschaftung der Haushaltfette hat mitten in Friedenszeiten begonnen, und die Einkaufsgenossenschaft Deutscher Kaufleute – EDEKA –, die ihr bewährtes Mitglied Bruno Jordan soeben alsSchriftführer in den Vorstand gewählt hat, muß die »geschaffene Lage« auf dem Fettmarkt mit dem Parteigenossen Schulz von der Hauptabteilung des Reichsnährstandes besprechen; Bruno Jordan äußert sich vor den versammelten Kolonialwarenhändlern zu Fragen des Vierjahrplanes, der Marktordnung und der Fachpresse – seine einzige Gelegenheit, namentlich im Lokalteil des »General-Anzeigers« erwähnt zu werden. Der Winter von 36 auf 37 war mild, das ist dokumentarisch belegt. Bruno Jordan hat nach jener im ganzen sehr erfolgreichen Sitzung vom 3. Januar 1937 gewiß noch länger mit seinen Vereinsfreunden – womöglich sogar mit dem Parteigenossen Schulz aus Berlin – zusammensitzen müssen, so daß es nicht spät, sondern früh war, als er, leicht schwankend, in der Schlafzimmertür stand und sein Bett von seiner Tochter Nelly besetzt fand: Eine Vorsichtsmaßregel von Charlotte Jordan, die ihrem Mann kühl mitteilte, er werde sein Bettzeug auf der neuen Couch im Wohnzimmer finden, und die ihm dann, da er sich weitschweifig zu erklären suchte, mit einem einzigen Wort die Rede abschnitt: Vagabund.
    Vagabund hat sie zu ihm gesagt, dachte Nelly, ehe sie wieder einschlief, und verschloß das Wort gegen jedermann. Behielt es so durch ihren Gedanken. Eine gute Ehe, so wird es Charlotte später nennen, im ersten Nachkriegsjahr, wenn Bruno Jordan sich noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befinden und Charlotte Jordan ein Familienfoto herumzeigen wird, auf dem auch er, in Unteroffiziersuniform, zu sehen ist. Wir haben eine gute Ehe geführt. Ein Geschäftsmann, mein Mann, wie er im Buche steht. Was der anfaßte, klappte. Zwischen den Eheleuten steht – auf dem Foto – derneue niedrige Couchtisch, mit sechzehn Kacheln belegt (in »bleu«), von denen die Eckkacheln je ein Segelschiff bei bewegter See aufweisen. Hinter ihm, steil

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