Kindheitsmuster
Nun stand es ihr frei, zu fahren, wohin sie wollte, überall anzuhalten, wo sie Kinder sich schlagen sah, und zugunsten des Schwächeren einzugreifen, die Auskunft über ihr Kommen und Gehen zu verweigern und danach am Abend mit den anderen wieder ruhig auf den Findlingen am Fuße des Sandbergs zu sitzen oder gar in Schnäuzchen-Omas Stube, wenn weit hinter der Schlucht die Sonne unterging und Schnäuz-chen-Oma mit zittriger Stimme zu singen anhob: »Goldne Abendsonne, wie bist du so schön, nie kann ohne Wonne deinen Glahanz ich sehn.«
War schon die Rede davon, daß Schnäuzchen-Oma sang? Sie wohnte ja mit Schnäuzchen-Opa nicht mehr in der Adolf-Hitler-Straße, sondern im oberen Stockwerkdes Jordanschen Hauses. Zwei Zimmer, Küche, Toilette, alles Ofenheizung, für zweiunddreißig Reichsmark Miete im Monat, die sie ihrem Schwiegersohn pünktlich am Abend eines jeden Ersten brachte, was sie sich in einem Oktavheft quittieren ließ.
Nach langer Zeit ist sie dir heute nacht im Traum erschienen. Merkwürdigerweise war sie fast erblindet – sie und nicht Nellys Mutter, bei der man zuletzt den grünen Star feststellte, zu einem Zeitpunkt allerdings, als eine Krankheit zum Tode jeden anderen Befund bedeutungslos machte. Erblindet: Sie, Schnäuzchen-Oma, die für ihre Tochter Liesbeth bis zuletzt das feinste Zeug zusammenstichelte. Vielleicht drückt diese Traumblindheit nichts anderes aus als einen Selbstvorwurf, daß du es versäumt hast, ihr rechtzeitig vor ihrem Tod Ruth, ihre erste Urenkelin, zu bringen, für die sie ein weiches wollenes Jäckchen mit Kapuze gestrickt hat, das sie selbst um Jahre überdauern und bei den Neugeborenen in der Familie die Runde machen sollte ...
Denkbar wäre auch, Auguste Menzels »Blindheit« sollte nur bedeuten, daß sie den Wohnort ihrer letzten Lebensjahre und den Fluß, an dem er lag – die Elbe –, nicht mehr hat wahrnehmen wollen. Meine Augen haben genug gesehen, hat sie oft gesagt. Unerklärlich blieb die wildfremde Wohnung, durch die sie dich im Traum führte, ebenso der Eifer, mit dem du die fremden blankpolierten Möbel abzustauben begannst, während sie untätig wartend in einem Sessel saß: ein absurder Vorgang. Dabei sprach sie ganz natürlich mit dir, und du freutest dich, daß jemand, der so lange schon tot ist, in alter Weise noch einmal mit einem reden kann, und du wolltest ihr endlich auch sagen, daß sie immernoch vermißt wurde. Aber sie ließ dich nicht zu Worte kommen, sondern machte dich darauf aufmerksam, daß es schönes Wetter gebe, wenn man von Toten träume, und daß man schon vom Verlust eines Zahnes träumen muß, wenn es den Tod bedeuten soll. Das meiste, was sie sagte, ging verloren. Nur daß sie sich nicht mehr über Dampf beugen dürfe, wegen ihrer Augen, das behieltest du: Sie, die du so oft in den dicken Dampfwolken in der Waschküche hast stehen sehn.
Dann aber saßest du plötzlich – nicht du: Nelly, das Kind – im Elternhaus, in dem schmalen Durchgang zwischen elektrischer Rolle und Laden auf einem Zuckersack, und Schnäuzchen-Oma, erblindet, stand neben Nelly und stützte sich ungebührlich schwer auf ihre Schulter. Von dem Druck bist du erwacht. Du konntest diesen Druck nicht abschütteln.
Ein deutsches Mädel muß hassen können, hat Herr Warsinski gesagt: Juden und Kommunisten und andere Volksfeinde. Jesus Christus, sagt Herr Warsinski, wäre heute ein Gefolgsmann des Führers und würde die Juden hassen. – Hassen? sagte Charlotte Jordan. War wohl nicht gerade seine Stärke. – Abends fragt sie ihren Mann: Ist es nicht hanebüchen, was der den Kindern in Religion erzählt? – Laß den doch erzählen, was er will. Wenn man sich da überall einmischen wollte!
Die Jordans hingen nicht an der Kirche. Sie hingen an ihren Kindern und an ihrem Geschäft und an dem neuen Haus. Bruno hing zusätzlich an der EDEKA, Charlotte hing zusätzlich an ihrem Steingarten, den sie terrassenförmig an der einst wüsten Böschung anlegte und allmählich so geschickt bepflanzt hatte, daß er vom Frühjahr bis zum Herbst blühte. Meine einzigeErholung, sagte sie, von dem verfluchten Im-Laden-Ste-hen. Das Wort »verflucht« im Zusammenhang mit dem Laden.
Nelly haßt den starken Rudi. Einen Juden hat sie ihres Wissens noch nie gesehen, auch einen Kommunisten nicht. Der Haß gegen diese unbekannten Menschengruppen funktioniert nicht nach Wunsch – ein Defekt, den man verbergen muß. Ausgleichsversuch: An Stelle eines Aufsatzes über das Thema: Wer hat
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