Kindheitsmuster
Europa, mitten in diesem Jahrhundert nicht einen einzigen Tag lang regulär Soldat sein mußte, hatte sich mit elf, zwölf Jahren als Jungvolkjunge auf die Pappköpfe von Churchill, dem Lügenlord, und Stalin, dem Bolschewistenhäuptling, eingeschossen.Das aber gehört in ein anderes Kapitel, denn einstweilen bereiten wir uns noch nicht auf den richtigen Krieg vor, sondern führen die Erzeugungsschlacht, betreiben den Geburtenkrieg und organisieren den Kampf dem Verderb: Schlachten, Kriege und Kämpfe, an die man sich gewöhnt wie an die gelegentlichen Verdunkelungsübungen. Ist unser Keller eigentlich bombensicher? – Mach dich nicht lächerlich. Die Kosten!
Am »Tag der Deutschen Wehrmacht« ißt Bruno Jordan mit seinen beiden Kindern in der General-v.-Strantz-Kaserne eine vorzügliche Erbsensuppe aus der Gulaschkanone, aber die Pappfiguren auf dem Schießstand trifft er doch nicht mehr so gut wie zwanzig Jahre früher, als er als einziger aus seiner Kompanie wegen hervorragender Ergebnisse drei Tage Sonderurlaub bekam. Seine Augen haben weiter nachgelassen, besonders das linke – ein Übel, das er seiner Tochter Nelly vererbt hat, die es aber erst mit vierzehn bemerken wird.
Nelly hat, nach der ersten trostlosen einsamen Zeit in der neuen Wohngegend, »auf den Tonnen« eine Schule aufgemacht, die kleinere Kinder aus der Nachbarschaft in die Anfangsgründe des Rechnens und Lesens einführt, ihnen Text und Melodie des englischen Liedes »Ba, ba, bläck schiep« überliefert und von Religion die Weihnachtsgeschichte und die Kreuzigung. »Die Tonnen« sind in Wirklichkeit übriggebliebene Kanalisationsrohre, die nicht abtransportiert wurden und regellos auf dem freien, unkrautbewachsenen Platz zwischen Sandberg und Jordanschem Haus umherliegen. Eines der beliebtesten Pausenspiele der Tonnenschule ist »Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldne Brücke ...« Gestört, für immer besudelt durch den starkenRudi aus der Fennerstraße. Der starke Rudi, der nie mit Mädchen spielte, kam in die Tonnenschule, weil ihn Nelly, diese dämliche Zicke, ankotzte: Das sagte er sofort frei heraus. Er drängelte sich in die Pausenspiele. »Sie ist entzwei, sie ist entzwei, wir wolln sie wieder flicken.« Rudi ließ das »l« im letzten Wort weg, er grölte einen Text, vor dem die Lehrerin Nelly, ohne ihn selbst recht zu verstehen, ihre kleineren Schülerinnen wohl hätte bewahren müssen. Das wird sie auch tun.
Es folgt eine glühend rote Szene – rot trotz der Dunkelheit vor Nellys Augen –, gräßliches heiseres Gebrüll, das nicht nur von Rudi, nein, auch von ihr ausging, ein stechender Schmerz an der Nasenwurzel und die wutschäumende Lust, endlich in weiches Fleisch schlagen zu können. Dann sitzt sie käseweiß, heftig aus der Nase blutend, auf der untersten Treppenstufe in ihrem schönen neuen Haus. Die Mutter, alarmiert, trifft ihre Maßnahmen – das Kind flach aufs Sofa, einen kalten Lappen ins Genick, in Essig getränkte Wattebäusche in beide Nasenlöscher –, Schnäuzchen-Oma legt ihre krumme rissige Hand auf Nellys Stirn: Das wird schon wieder, laß man.
Keiner versteht, warum sie untröstlich bleibt. Sie wissen nicht, was Nelly begriffen hat, ehe es ihr dunkel vor den Augen wurde: Daß der starke Rudi sie haßte und daß er mit kalter, genauer Berechnung gekommen war, um sie zu demütigen und fertigzumachen. Und daß sie selbst von einem scharf umrissenen Augenblick an das Verlangen mit ihm teilte: den anderen unterkriegen! Wäre sie stärker gewesen! Hätte sie es sein können, die ihn zusammenschlug! Da ließ er von ihr ab:Er hatte sein Ziel erreicht. Er hatte sie sich gleichgemacht.
Die Schule auf den Tonnen konnte nie mehr werden, was sie gewesen war. Niemand auf der Welt konnte Nelly ihr altes stolzes Bewußtsein wiedergeben, daß sie anders war als solche wie Rudi. Obwohl sie von jetzt an bewundert wurde und es nicht mehr vorkommen konnte, daß sie beim Völkerball zusehen mußte. Sie war es nun, die eine Mannschaft wählen durfte, und wenn sie keine Lust hatte, dann hatte sie eben keine Lust und mußte, Gott mochte wissen, warum, auf ihrem alten Fahrrad in der Gegend umherrasen, das sie sich noch am Abend ihres Kampfes mit dem starken Rudi heftig und gegen ihre Art hartnäckig und unbescheiden ausbedungen hatte, bis ihre Mutter seufzend hinging und das Rad, diese alte Klapperkiste, von einer Kundin für zwanzig Reichsmark kaufte.
Nelly trainierte täglich, bis sie das Vehikel vollkommen beherrschte.
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