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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Sucht zu werden droht und jene hellsichtigen Augenblicke uns endgültige Beweise für die Unausführbarkeit derjenigen unserer Pläne liefern, von denen abzulassen uns unmöglich ist. Es herrschte die grelle, aber ungewöhnliche Beleuchtung, die eine heiße Julisonne zu liefern imstande ist. Das »Licht der Kindheit« – wie hattest du hoffen können, es wiederzufinden! – blieb unsichtbar.
    Du ließest dir von Lutz die Belichtungswerte ansagen, denn dies war der Standort, von dem aus man deutlich sehen konnte, um wieviel die gespaltene Pappelspitze das Dach des Hauses überragte und wie dick der Stamm dieses Baumes geworden war. Ist schon erzählt worden, daß Nelly selbst einst die Pappelrute pflanzendurfte? Der alte Gensicke, Gärtnerei und Baumschule, hat das Bäumchen mitsamt Wurzelballen von seinem Schiebekarren gehoben und in das Loch gesenkt, aber Nelly ist es gewesen, die die Grube mit Muttererde zuschüttete und die Erde festtrat, bis um das Bäumchen herum eine sanfte Kuhle entstanden war, in die sie dann das Wasser goß, das sie zusammen mit dem kleinen Maurerlehrling im Kalkeimer herbeischleppte. Der alte Gensicke ließ einen seiner Sprüche vom Stapel, der das Gedeihen des Baumes betraf und das Gedeihen dessen, der ihn gepflanzt, und aus dem Keller, wo die Maurer Richtfest feierten, sangen sie »Kornblumenblau«. Lebensgipfel. Eindrücke, die keinem normalen Gedächtnis entfallen können. Ähnlich, sagt Lenka, wie sie sich immer an den Tag erinnern wird, an dem den Kindern die halbverrottete Laube in einem ihrer früheren Gärten zur beliebigen Verwendung übergeben wurde. So denke sie also, fragst du sie, auch an die alte Laube, wenn sie das Wort »Heimat« höre? – Nein. – Woran aber sonst? – Heimat ist für mich kein Wort, bei dem ich mir was denken kann, sagt Lenka.
    Du überlegst. Es könnte wahr sein.
    Zuhause, sagt Lenka: Ja. Das sind ein paar Leute. Wo die sind, ist Zuhause.
    Sie will wissen – fast erstaunt über ihren Verdacht –, ob etwa ihr, Lutz und du, heimatliche Gefühle hegt. Hierher, zum Beispiel.
    Ihr zögert. Es habe sich ja vieles sehr verändert. Aber andererseits ... Natürlich sehne man sich nicht hierher zurück, das nicht.
    Lenka schweigt. Du sagst ihr, daß Nelly sich niehat vorstellen können, jemals woanders zu leben als hier.
    Lenka verlangt Einzelheiten über Nellys Spiele zu wissen. Sie hat doch, wie Lenka weiß, in einem bestimmten Alter Prinz und Prinzessin gespielt, mit Leidenschaft, wie sie selbst, Lenka, auch. Du erinnerst dich an lange Gänge und Ritte über die harte Grasnarbe dieses Hügels, Schleier und Tücher wehen hinter Nelly im Winde, sie ist die Prinzessin, und Hella Teichmann, ihre neue Freundin, angetan mit einem Samtbarett und einer Feder, ist der Prinz und, je nach Kopfbedeckung und Bedarf, der ganze übrige Hofstaat. Immer fielen Verbrechen vor. Auf den gräßlichen Verrat eines Dieners, auf Entdeckung und Verfolgung folgten die schauerlichsten Strafen, die alle hier, an diesem sonnenüberfluteten Sandhügel, in vorgestellten Höhlen und Grotten vollstreckt wurden und sich durch ausgesucht langwierige und qualvolle Prozeduren auszeichneten, die übrigens Lenkas Prinzessinnenspiel vollkommen gefehlt haben müssen. Sie weiß nur von der dunkelgrünen Höhle unter dem Holunder, die ihr als Schloß gedient hat, und von dem schmerzlichen Versagen vieler Prinzen, denen es einfach nicht gelang, die drei Aufgaben zu meistern und sie zu erlösen.
    Hier hat auch Sigi Deickes großer Auftritt stattgefunden. Der Junge, kleiner als Nelly, wohnte im ersten der Bahrschen Häuser. Er schlich sich an sie heran, brach dann plötzlich hervor, um sich am äußersten Rand des Hügels zu postieren (dort, wo ihr standet), den rechten Arm hochzureißen und in einem unheimlich ekstatischen Ton aus Leibeskräften zu brüllen: Ich bin euer Führer Adolf Hitler, ihr seid mein Volk und müßt mirgehorchen. Siegheil! Siegheil! Siegheil! – Er war es zufrieden, wenn Nelly und ihre Freundin Hella in den dreifachen Ruf einstimmten, stärkere Beweise ihrer Unterwerfung verlangte er nicht.
    Der war nicht ganz richtig im Kopf, sagte Lenka. – Wieso denn? sagte Lutz. Der wiederholte nur, was er im Radio hörte. – Der Arme, sagte Lenka.
    Es war nun angebrochen, was die älteren Leute heute noch »Friedenszeiten« nennen: Drei oder vier Jahre, die ihr Bewußtsein maßlos dehnt.
    Warum ist dieses Gefühl niemals wiedergekehrt, in achtundzwanzig Friedensjahren nicht?

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