Kindheitsmuster
nicht bombardiert, sondern von den Bolschewisten mit Benzin übergossen und angezündet worden. Kein Foto natürlich. Dagegen ist der Stapellauf des KdF-Schiffes »Wilhelm Gustloff« fotografiert worden, und der »General-Anzeiger« bringt das Bild, das dir, wie du es so ansiehst, gar nicht fremd vorkommt. Ganz im Gegenteil sogar. Ein weißes Schiff, aus dessen Schornstein freudiger Rauch quillt und dessen Bugwelle ein weiß schäumendes Dreieck bildet ... Schneller blätterst du die großen brüchigen Blätter um: Lief hier nicht Nellys weißes Schiff vom Stapel?
31. MAI 1937. ROTE SPANISCHE FLUGZEU-GEBOMBARDIEREN EIN DEUTSCHES PANZERSCHIFF !
Der Name: Panzerschiff »Deutschland«. Die Zahl der Toten: 23. In einer Vergeltungsaktion beschossen deutsche Kriegsschiffe am 1. Juni – Nelly ist nach Swinemünde abgereist – den spanischen Hafen Almeria und zerstörten die Hafenanlagen. Der Kreuzer »Leipzig« lief nach Spanien aus. Die Urlauber am Ostseestrand verfielen in Kriegsfurcht. Ein Kind, das Heimweh hat, behält zwei Bilder: das eine vom weißen Schiff, das sie in der Zeitung gesehen hat und mit der falschen Nachricht verbindet; das andere von der toten Mutter im Sarg. Sonst: daß es gelben Sand gibt und daß man über Holzplanken an den Strand geht. Weiter nichts. Dann erst wieder, bei der Heimkehr am Abend, das weiß leuchtende Gesicht der Mutter, die in der Dunkelheit im Fenster liegt. Auch das bleibt. Ach du mein Dummerchen du, wie sollte ich denn gestorben sein, wenn du weg bist?
Alles andere höflichkeitshalber eingeräumt: Ja, die schöne Sandburg. Das gute Essen, ja, die schöne gesunde reine Luft. Aber Erinnerungen wurden das nie.
Dagegen ist nichts zu machen.
Zurückblätternd nach dieser wichtigen Entdeckung im Jahrgang 1937 des »General-Anzeigers«, den Nelly täglich in den Händen ihrer Großmutter und allabendlich in denen ihrer Eltern sah und der sich als ein wüstes Blatt entpuppte, das dich in die Nähe wüster, mutloser Gedanken brachte – zurückblätternd, gingst du nun genauer vor, den ganzen Jahrgang von Anfang an.
Mensch, sei kein Tor, fahr Brennabor!
Wer sein Vesperbrot nicht schafft, der gebe es zurück!– Es gibt auch geistige Rassenschande! Deutsche Volksgenossen meiden den jüdischen Arzt!
Sodann, in fetten Buchstaben: »Bucharin, der Letzte der Leningarde, in GPU-Haft.«
Ein paar Seiten weiter: »Beginn des Moskauer Prozesses gegen Radek und andere.« 17 Todesurteile.
Am 14. Mai teilt der »General-Anzeiger« mit, Bucharin und Rykow seien verurteilt. – Stalin säubere die Wissenschaft.
Anstatt nun – wie es zuerst selbstverständlich schien – diese Meldungen als nicht zur Sache gehörig zu übergehen, scheint ein Versuch nötig, zu schildern, wie du im Mai des Jahres 71, vierunddreißig Jahre nach den Ereignissen, auf deinem ruhigen, sicheren Stammplatz im Lesesaal der Staatsbibliothek von Berlin, Hauptstadt der DDR, auf sie reagiert hast. Mag sein, der Versuch muß scheitern, und daß du dich gerade nach ihm drängen würdest, wäre gelogen. Doch fragte – nur ein Beispiel zu nennen – wenige Wochen später, während eurer kurzen Polenreise, Lenka, damals vierzehnjährig, beim Mittagessen in der neuen Gaststätte am Markt von G.: Nun sagt mir bloß mal, wer war denn eigentlich dieser Chrustschow! Ein nicht gelinder Schrecken fuhr dir in die Glieder, und es wurde dir klar, daß gewisse Pflichten keinen Aufschub mehr dulden, unter ihnen die Pflicht, anzudeuten, was mit uns geschehen ist. Es wird uns nicht gelingen, zu erklären, warum es so und nicht anders gekommen ist, doch sollten wir nicht davor zurückscheuen, wenigstens die Vorarbeiten für künftige Erklärungen zu leisten.
Im Bücherschrank des Jordanschen Wohnzimmers stand auf dem obersten Regal rechts, hinter Glas, geliefertvon Leo Siegmann, ein Buch mit dem Titel »Der verratene Sozialismus«. Es zeigte farbig auf dem Schutzumschlag ein in Mordlust verzerrtes Gesicht unter einer Mütze mit Hammer und Sichel und war von Charlotte Jordan zum verbotenen Buch erklärt worden.
(Übrigens: Welche Art Pflicht besteht oder soll angeblich bestehen, derartige Einzelheiten auszupacken? Verantwortung – davon könnte reden, wer alles wüßte und imstande wäre, es den Richtigen richtig zu sagen. Verantwortung kann zur Formel werden, unverantwortlich zu handeln. Es bleibt aber: die Pflicht des Schreibers, der zum Beispiel erklären muß, wie Nelly sich all die Jahre ihrer Kindheit einen Rotarmisten vorgestellt
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