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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nur Befremden äußern.
    Eine Neue, die aus dem norddeutschen Husum in ihre Stadt und in ihre Klasse verschlagen wurde, prägte sich ihr dadurch ein, daß sie – ununterbrochen Brote und Kuchenstücke kauend, deren Krümel ihr am Kinn hängenblieben, ohne daß sie es bemerkte – in gelassenem norddeutschem Tonfall diese Stadt »langweilig« nannte, »sterbenslangweilig« sogar.
    Das verstand Nelly nicht. Sie hielt es für ausgeschlossen, daß die heimatkundlichen Gänge, die Herr Warsinski mit seiner Klasse unternahm – Marktplatz, Marienkirche, Stadtkern mit dem Rest der alten Stadtmauer –, auf Inge, so hieß die Neue, ohne Eindruck bleiben sollten. Herr Warsinski las aus den Aufsätzen eines Heimatforschers vor, eines gewissen Bachmann, daß es der »kluge Askanier Johann I.« war, dem sie um 1260 die Gründung ihrer Stadt verdankten, die, »rings von Sumpf und Wasser schützend umgeben und ihrer strategischen Bedeutung entsprechend mit Palisaden, Gräben und Wehren versehen, zum Hort des Deutschtums dieser Gegend« wurde und sich »sowohl gegen die verheerenden Raubeinfälle der Polen (1325-26) wie später gegen den wilden Ansturm der Hussitenhorden trefflich bewährte«.
    Dann kam der Volksdichter Adolf Mörner zu Wort, der mit Recht gesungen hatte:
    Wie schön im Kranze blüh’nder Gärten,
    Mein trautes Städtchen, liegst du da!
    Nie kann wohl dem das Herz erhärten
    Der dich im Blütenschmucke sah!
    Man soll nie nie sagen, war eine von Charlottes stehenden Redewendungen.
    Personen sind ja auch schon da. Personen mit personengebundenem Gedächtnis, dessen Unzuverlässigkeit leicht zu testen wäre; beispielsweise an dem Stichwort »Vorkrieg«. Was fällt dir – oder Ihnen – bei »Vorkrieg« ein?
    Die Antworten sind ausgedacht, daher doppelt tendenziös.
    Bruno Jordan würde vielleicht »Volkswagen« sagen. – Wir wollten ja erst nicht; aber dann, dämlich, wie wir waren, haben wir doch angefangen, die Marken zu kleben und dem Adolf seinen Krieg finanzieren zu helfen: Eine Aussage von Charlotte Jordan aus den frühen fünfziger Jahren, als sie sich entschloß, das Klebeheft mit den VW-Marken im Wert von 500 Reichsmark zu verbrennen.
    Bruno Jordan könnte sagen: Ruhe und Ordnung! Dann aber würde er seine Aussage einschränken: Dabei war schon was im Gange, wir wußten’s bloß nicht.
    Charlotte Jordans Antworten hätten sich in den vierundzwanzig Jahren, die ihr Leben nach 1945 noch dauern sollte bemerkenswert verändert. Vorkrieg? Ach, glückliche Zeiten! hätte sie zuerst gesagt. Später vielleicht: Viel Arbeit. Und zum Schluß: Ein einziger großer Beschiß. – Nur um klarzustellen, daß das Gedächtnis kein festgefügter Block ist, der in unserem Gehirn unveränderlich festsitzt; eher schon, falls große Worte erlaubt sind, ein wiederholter moralischer Akt.
    (Was heißt: sich verändern?)
    Nellys Assoziation zu dem Stichwort »Vorkrieg« würde wohl lauten: Das weiße Schiff.
    Das muß erklärt werden.
    Wurde schon gesagt, daß das Erinnerungsvermögen dieses Kindes sich mit Vorliebe an unheimliche, beängstigende und demütigende Stoffe klammerte? Das weiße Schiff ist ein unheimliches und beängstigendes Motiv, zugleich aber ist es ein leuchtendes sommerliches Bild in deinem Phantasiegedächtnis, welches diejenigen Gegenstände aufbewahrt, die man nicht wirklich gesehen oder erlebt, sondern sich nur vorgestellt, heiß gewünscht oder gefürchtet hat. Es ist wahr, dem Phantasiegedächtnis ist noch weniger zu trauen als dem Wirklichkeitsgedächtnis, und du konntest dir ja auch dieses Bild so lange nicht deuten, bis du im »General-Anzeiger« vom 31. Mai 1937 die Lösung fandest und darüber so aufgeregt wurdest, daß du am liebsten die freundliche Frau am Aufsichtstisch des Lesesaals davon benachrichtigt hättest. Die Einsicht, du würdest ihr unmöglich im Flüsterton alle Zusammenhänge erklären können, in deren Mittelpunkt das weiße Schiff stand, hemmte dein Mitteilungsbedürfnis; »stand« ist schon gar nicht das richtige Wort. Es fuhr unter wolkenlos blauem Himmel in einem leicht bewegten, ebenfalls blauen Wasser mit weiß schäumender Bugwelle, und es war sehr schön und bedeutete Krieg. Und bis auf den heutigen Tag – mehr als zwei Jahre sind seit der unverhofften Entdeckung in der Staatsbibliothek vergangen – denkst du nicht anders als mit Triumph an die Aufklärung dieses für unlösbar gehaltenen Rätsels. An die Minute, da sich erwies, daß dein Gedächtnis nicht irgendwelchen

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