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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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man erst »dort« war, ist es kein Spiel mehr, es war dir klar. Dann gibt es kein Zurück mehr, nichts läßt sich ungeschehen machen. Wenn du die Straßen betreten, die Hauswände berührt, die Hügel und den Flußwiedergesehen, dich ihrer Wirklichkeit vergewissert hast ...
    Was zwingt dich, hast du dich gefragt – nicht mit Worten, das gibt es selten: durch Kopfschmerz –, was zwingt dich, zurückzusteigen? Einem Kind gegenüberzutreten (sein Name war noch nicht festgelegt); dich erneut auszusetzen: dem Blick dieses Kindes, der gekränkten Abwehr aller Betroffenen, der puren Verständnislosigkeit, vor allem aber: der eigenen Verschleierungstaktik und dem eigenen Zweifel. Sich absondern, was soviel heißt wie »in Opposition« gehen.
    (Nach einer Lesung in einem Betrieb versuchst du herauszufinden, welches Interesse die Anwesenden – eine Brigade aus der Ökonomie-Abteilung – jener Zeit entgegenbringen. Ein blondes junges Mädchen liest gerne Bücher von früher, weil sie daraus ersehen kann, wie gut es ihr heute geht und weil sie ihre Eltern dann besser versteht. Andere, Ältere, wollen schon auch mal darüber lesen, aber zu schwer dürfte es nicht sein, etwas Humor müßte auch schon eingestreut werden.)
    Eine Frau, die dir nahesteht, um fünf Jahre jünger als du selbst, sagt unumwunden: Diese Zeit ist für mich Tertiär. Tertiär: Erdgeschichtliche Periode, an deren Ende die Umrisse der Festländer und Meere bereits denen der Jetztzeit ähneln, die Gebirgsbildung im wesentlichen abgeschlossen ist, an Stelle der früheren Saurierformen Säugetiere die Erde bevölkern und Insekten und Vögel sich vielfach ihrer heutigen Gestalt genähert haben. Der Mensch ist noch abwesend.
    Warum also abgelagerte, zur Ruhe gekommene Gesteinsmassen wieder in Bewegung bringen, um womöglich auf organische Einschlüsse – Fossilien – zu stoßen.Das feingeäderte Flügelwerk der Fliege in einem Stück Bernstein. Die flüchtige Spur eines Vogels, in einstmals lockeren Sedimenten durch günstige Lagerung verfestigt und verewigt. Paläontologe werden. Mit Versteinerungen umgehen lernen, aus Abdrücken auf das frühere Vorhandensein lebendiger Formen schließen, die man nicht zu Gesicht bekommt.
    Die Frau, die dir nahestand, ist gestorben. In jener Nacht vor der Reise lebte sie noch, hatte aber ihren Satz über das Tertiär schon gesagt. Zu den letzten Visionen, die sie zu ihrer Qual sehen und immer wieder sehen mußte, gehörte das Bild eines herrischen blonden Weibs in schwarzen Schaftstiefeln; mit einer Lederpeitsche klatschend, jagte sie, gefolgt von ihrer Hundemeute, durch die Flure des Krankenhauses, in dem die junge Frau starb.
    Ach: Tertiär!
    Mit einem Auto vom Typ Wartburg ins Tertiär reisen.
    Eine Angstpartie, würde Charlotte Jordan sagen. Sonst war ihr Thema eher das Glück. Glückliche Ehe, glückliche Familie. Meine Kinder hatten jedenfalls eine glückliche Kindheit. – Nur daß sie das Glück für allzu zerbrechlich hielt. Glück und Glas, wie leicht bricht das. So daß ihre Kinder dazu übergingen, sich im Krankheitsfalle selbst zu kurieren, um der Mutter die Angst zu ersparen, bis Lutzens geschwollene Mandeln sich durch seine kloßige Redeweise verrieten. Glücksbesessenheit, an deren Grund wie ein trüber Bodensatz immer neu der Verdacht sich sammelte, daß alles vergeblich war.
    Einmal, als sie den ganzen Abend Wassereimer zu ihrem Steingarten geschleppt hatte – wenn der mir jetzt vertrocknet, war doch alles umsonst –, erschienen inCharlottes Armbeugen blaugrüne Flecken, die sich ausbreiteten und Nelly zu Tode erschreckten. Mit einer merkwürdigen Befriedigung, als bestätige sich nur, was sie sich schon lange gedacht hatte, vernahm Charlotte, daß sie still liegen, sich nicht rühren dürfe: wegen der Emboliegefahr, wegen der Blutgerinnsel, die sich selbständig machen konnten, von denen eines vielleicht schon auf dem Weg zum Herzen war. Siehst du, mein Kind, so schnell kann das mal gehn, sagte sie, immer noch mit dieser seltsamen Genugtuung, die Nelly ihr übelnahm, warum, hätte sie sich nicht eingestanden. Welches Kind wünscht sich eine Mutter, die ihren Tod auf die leichte Schulter nimmt? Die vielleicht einen unauffälligen Weg sucht, es im Stich zu lassen?
    Diese Sprach-Unmächtigkeit. Gut beleuchtete Familienbilder ohne Worte. Sprachloses Gebärdenspiel auf ordentlich aufgeräumter und abgestaubter Bühne. Wann hat Charlotte ihrem Mann am Abendbrottisch zum erstenmal das Rauchen vorgehalten und,

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