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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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vorbildlich«, und der Gefangenenpfarrer fand in Eichmann einen »Mann mit positiven Ideen«. Übrigens nicht nur Höß, der Kommandant von Auschwitz, auch Eichmann hat ausgesagt, daß er kein Antisemit war); am gleichen Tag, da die Wiederholung des einst renommierten Wortes »normal« eine feine, doch penetrante Übelkeit in dir erzeugte, als habe die Anpassungsbereitschaft des Körpers an eine Art von Dauervergiftung ganz plötzlich nachgelassen (du gingst mit Alkohol dagegen vor, was deinen Zustand nicht hob): Am gleichen Tag fiel dir, nach so vielen Jahren, jene Normalszene wieder ein, die in der ersten Zeit im neuen Haus passiert sein muß, also in den Jahren 36 oder 37.
    Tante Trudchen aus Plau am See ist angekommen. Sie hat für Nelly eine feine kleine Spieluhr mitgebracht, diezieht sie ihr zehn-, auch zwanzigmal hintereinander auf, damit »Ach, du lieber Augustin!« immer wieder zu hören ist. Aber beim zwölften Mal fängt Tante Trudchen zu schnüffeln an, beim dreizehnten Mal zückt sie ihr feines kunstseidenes Taschentuch, beim vierzehnten Mal fließen endlich die Tränen. Am Kaffeetisch ist es Charlottes Aufgabe, ihre Schwägerin zum Reden zu bringen, die unzusammenhängenden Aussagen zu ordnen und sie zu dem Satz zusammenzufassen: Was! Irgendein Schweinehund verbreitet hinter deinem Rücken das Gerücht, du bist Jüdin!
    Tante Trudchen hat harte Worte nie vertragen können. Halbjüdin, schluchzt sie; sie sagen: Halbjüdin. – Das ist dasselbe, findet Charlotte. Die Halbierung der Verleumdung mindert ihre gerechte Empörung nicht. Sie zählt die Merkmale auf, die dem abscheulichen Verdacht Nahrung geben könnten: Schwarzes Haar, leicht gebogene Nase, feines Profil. Diese Schafsköpfe, sagt Charlotte.
    Zwar hat Bruno Jordan seinen Ahnenpaß noch nicht vollständig beisammen. Noch reicht er nicht zurück bis ins Jahr 1838 wie späterhin, aber die drei, vier letzten Generationen, auf die es ankommt, sind als »absolut astrein« ermittelt und können Tante Trudchen zur Verfügung gestellt werden. Ob es was nützt, ist die andere Frage. Was da betrieben wird, ist ja Rufmord, und hinter Rufmord steckt doch meistens eine andere Absicht als die, die obenauf zu liegen scheint. Da will dir jemand an den Kragen, Trude, und zwar womöglich einer aus deiner nächsten Umgebung. Überleg doch mal!
    Aber nein, sagte Tante Trudchen. Um Himmels willen! Das sind doch alles so riesig nette Leute ...
    Nelly flüchtet in die Küche. Sie hockt sich auf den Kohlenkasten und preßt die quatschnassen Hände zusammen. Sie ist außer sich, aber sie weint nicht. Feucht werden ihr die Augen erst, als die Mutter sie aufstöbert, die natürlich etwas gerochen hat, und wissen will, was los ist.
    Da äußert Nelly den bemerkenswerten Satz: Ich will keine Jüdin sein!, und Charlotte richtet an eine nicht zu benennende Instanz die nicht weniger bemerkenswerte Frage: Woher um alles in der Welt weiß dieses Kind, was eine Jüdin ist?
    Auf diese Frage ist eine Antwort nicht zu ermitteln.

7
    Was heißt: sich verändern?
    Nachdem der Grundriß skizziert ist, sind es die wirklichen Fragen, die anstehn. Fast gleichgültig, von welcher Seite her du dich ihnen näherst. Es ist richtig in Gang gekommen, was wir später »Vorkrieg« nennen werden. Später, das ist heute, im August 73, da die Nachkriegszeit unter Schwierigkeiten zu Ende geht.
    Sich verändern heißt zum Beispiel: Eine andere Stellung annehmen. Frau Elste, die immer noch zur Aushilfe zu Jordans kommt, will sich verändern: Sie wird in die Jutefabrik arbeiten gehn, jenseits der Warthe, wo sie ja wohnt.
    Nelly will sich nicht verändern. Ihr ist es recht, daß der Schauplatz, den wir nun achteinhalb Jahre lang nicht verlassen werden, die Tendenz zeigt, sich zum festen, unveränderbaren Hintergrund zu verdichten. Nelly – gewissenhaft und nachhaltig, wie ihre Gefühlsbindungen sich von klein auf gestalteten – hing an diesem Schauplatz, den sie nie zu verlassen wünschte; du dagegen, da du dir einschneidende Veränderungen nicht nur vorstellen kannst, sondern daran gewöhnt bist, von einer einschneidenden Veränderung zur nächsten zu leben, beeilst dich, bei den ersten Anzeichen von Verfestigung einen alten Schauplatz fluchtartig zu verlassen. Über die Beharrlichkeit, mit der Nelly daran festhielt, eine mittelmäßige Provinzstadt von knapp 50 000 Einwohnern (ES GRÜSST SIE DIE PARKSTADT DER MARK BRANDENBURG !) für den Ort zu halten, derihr ein für allemal zugewiesen war, kannst du

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