Kindheitsmuster
Unsinn aufbewahrt, sondern eine wenn auch vielfach verschlüsselte Realität.
Man muß nämlich wissen, daß das Reizwort »weißesSchiff« nicht nur Kriegsangst bedeutete, sondern auch noch Heimweh, unverkennbar Heimweh, und alle diese Einzelteile, wie du sie auch drehen und wenden mochtest, wollten nun einmal nicht zueinander passen.
»Heimweh« reimte sich allerdings auf »Ostsee«, auf die erste größere Trennung der achtjährigen Nelly von der Mutter. (Vielleicht fuhren einfach weiße Dampferchen im Sommer 37 von Swinemünde aus zu den anderen Ostseebädern? Insgeheim wußtest du: Die Spur war falsch.)
Wenn Nellys Einschulung in das Jahr 35 fiel – Ostern 1935, sie war mit knapper Not sechs Jahre alt und blieb die Jüngste in der Klasse –, dann mußte ihre erste Ostseereise, die zu Beginn der dritten Klasse stattfand, sich auf den Juni 37 datieren lassen. Ärztliche Atteste bescheinigten eine Anfälligkeit für Bronchialkatarrhe, umständliche Beurlaubungsanträge an die Schulbehörde wurden nötig. (Als Nelly zurückkam, zwei Wochen versäumt hatte, zeigte sie sich außerstande, in dem Satz: »Alle Deutschen lieben unseren Führer Adolf Hitler« die Satzergänzung zu bestimmen, und Herr Warsinski unterstellte ihr, daß ihr noch die Badekappen im Kopf herumspukten. Das kränkte sie schwer. Herr Warsinski sah es ungern, wenn Extrawürste gebraten wurden; den Bronchialkatarrh hatte er noch nicht kennengelernt, der in ihrem guten reinen märkischen Klima nicht zur Ausheilung gebracht werden konnte.)
Tante Liesbeth und Onkel Alfons Radde hatten einen gebrauchten kleinen DKW erworben. Der Notsitz war für Nelly. Sie fuhr, mit Schals und Tüchern umwickelt, im Freien bis nach Swinemünde, wo sich auf der Veranda ein Notbett für sie finden wird. Seeluft kräftigt,passieren tut ihr nichts, Tante Liesbeth legt ihre Hand dafür ins Feuer. Nelly läßt ihre Schalenden im Winde flattern, Vetter Manfred, Manni, der noch sehr klein ist, winkt ihr durch die winzige DKW-Rückscheibe zu, Nelly singt laut »Halihalo, wir fahren!« und entdeckt den Satz »Zu beiden Seiten flogen die Bäume vorbei« als persönliche Erfahrung. An Swinemünde war nichts auszusetzen. Annehmbares Quartier, Sandstrand, auch das Wetter passabel. Nelly wirft sich in die Wellen, wasserscheu ist sie nicht. Mit Manni spielt sie auch gerne. Also, was fehlt ihr noch?
Nichts. Rein gar nichts fehlt ihr, und ein undankbares Kind sein, das wäre das Letzte. Es ist bloß, sie träumt jede Nacht von ihrer Mutter, und zwar, daß sie tot im Sarg liegt. Dann erwacht sie natürlich und muß weinen und kann lange nicht wieder einschlafen. Sie weiß selber nicht, warum sie gerade immer das träumen muß. Heimweh ist es ja bestimmt nicht. Heimweh haben nur kleine Kinder, und es äußert sich doch gewiß ganz anders.
Da haben sich Tante Liesbeth und Onkel Alfons aus reiner Gutmütigkeit was eingebrockt. Aber die Sache mit dem weißen Schiff ist schlimmer und stellt alle anderen Sorgen in den Schatten. Den Kindern wird natürlich nicht mitgeteilt, woher auf einmal diese Aufregung und worum es sich da im einzelnen handelt; aber Nelly, mucksmäuschenstill, die sich angeblich nicht satt sehen kann, wie die See mit immer neuen freundlichen kleinen Schaumkronen auf ihre Strandburg zukommt, Nelly hört mehrmals die Wörter »Schiff« und »Krieg« im gleichen Atemzug nennen, und sie hört auch Tante Liesbeths Frage, ob man nicht lieber abreisen solle, da dochalles auf des Messers Schneide stünde. (Abreisen! Nach Hause! Die Mutter lebend antreffen!) Aber Onkel Alfons, der weiß, es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht, macht das überlegene Gesicht, das Männer machen müssen, wenn Frauen Angst vor Krieg haben.
Das Wort »Panik« kennt Nelly nicht.
»Guernica« auch nicht. (Das Wort, den Namen »Guernica« hast du fünfzehn bis zwanzig Jahre später zum erstenmal gehört, im Zusammenhang mir dem Bild, dessen gute Absicht nicht bezweifelt, dessen realistische Ausführung aber heftig umstritten wurde; nun hast du – unvermeidlicher Vorgriff in der Chronologie – in jenem Saal im Museum of Modern Arts in New York vor den Blättern gestanden, die Vorstufen zu dem großen Bild waren und an denen sich ablesen läßt, auf welche Weise aus einer naturgetreu gezeichneten Kuh ein Tier hervorgeht, fähig, die Anklage allen Getiers gegen die Überhebung des Homo faber auf sich zu nehmen.) Im April 37 hat also der »General-Anzeiger« die Nachricht verbreitet, Guernica sei
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