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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nehmen, daß keiner aus der ganzen Familie den Vetter, Sohn, Bruder und Onkel Hannes in eine verschwiegene Ecke gezogen und ihm in vertraulichem Ton Fragen gestellt hat. Der spanische Krieg genügte ihnen so, wie er sich im »General-Anzeiger« und im Deutschen Rundfunk abgespielt hatte. Neugier war ihre Schwäche nicht, obwohl nicht etwa ein Stoff, der die Information: Fürchte dich vor Neugier! eingetrichtert hätte, unter der Bevölkerung zur Anwendung kam. Nicht ein Mal – kein einziges Mal! – sind sie in Versuchung gewesen, auf ihrem neuen Radioapparat, einem MENDE mit grünem Auge, dessen Anschaffung möglich wurde, als die rotbraune Sesselgarnitur und der Bücherschrank bezahlt waren, die Skala nach verbotenen Stationen abzusuchen.
    Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
    Was sie nicht wußten, machte sie lau. Übrigens hatten sie Glück. Keine jüdische oder kommunistische Verwandt- und Freundschaft, keine Erb- und Geisteskranken in der Familie (auf Tante Jette, Lucie Menzels Schwester, kommen wir noch), keine Auslandsbeziehungen, keine nennenswerten Kenntnisse in irgendeiner Fremdsprache, überhaupt keinen Hang zu zersetzenden Gedanken oder gar zu entarteter und anderer Kunst. Festgelegt durch das, was sie nicht waren, wurde ihnen nur abverlangt, nichts zu bleiben. Und das scheint uns leichtzufallen. Überhören, übersehen, vernachlässigen, verleugnen, verlernen, verschwitzen, vergessen.
    Nachts, im Traum, soll nach neueren Erkenntnissen die Übernahme von Erlebnisstoffen vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis geschehen. Du stellst dir ein Volk von Schläfern vor, ein Volk, dessen Gehirne träumend den ihnen gegebenen Befehl befolgen: Löschen löschen löschen. Ein Volk von Ahnungslosen, das, zur Rede gestellt, später wie ein Mann aus Millionen Mündern beteuern wird, es erinnere sich nicht. Und der einzelne wird sich nicht erinnern an das Gesicht des Juden, dessen Fabrik – eine kleine verkommene Zuckerwarenfabrik, Lenka, eine Bonbonbude, mehr war es ja wirklich nicht, kein Wertobjekt; und wenn Onkel Emil Dunst nicht hinterhergewesen wäre, hätte sie ein anderer mit Kußhand genommen und weniger dafür bezahlt –, dessen Fabrik also ihr am Abend in G. suchen und endlich auch finden werdet, hinter einer stillgelegten Tankstelle an der ehemaligen Küstriner Straße. Es ist nicht einmal gesagt, daß Onkel Emil Dunst das Gesicht des Juden Geminder je angesehen hat, so daß er nicht zu lügen brauchte, wenn er später in seiner großtuerischen Art sagte, er erinnere sich überhaupt nicht an ihn. Ein alter Mann eben, auf dem absteigenden Ast, der froh war, wenn er davonkam. Direkt dankbar ist der mir ja noch gewesen, wollen wir doch bei der Wahrheit bleiben, wolln wir doch. Onkel Dunst hatte die Angewohnheit, wichtige Teile eines Satzes noch einmal zu wiederholen, in der Art: Mag ja manches passiert sein, mag es ja, was nicht vollkommen seine Ordnung hatte, aber bei mir doch nicht, doch nicht bei mir. Unsereins hat doch nichts gewußt, und wenn einer ein gutes Gewissen haben kann, dann bin ich das wohl, bin ich, jawohl.
    Guten Gewissens verstarb er Ende der fünfziger Jahre in einem Dörfchen in der Altmark, versöhnt mit seiner Frau, Tante Olga, versorgt, gepflegt, begraben, von ihr beweint und unvergessen.
    Und manches wäre einfacher, wenn er schlicht gelogen hätte.
    In der Nacht vor der Reise nach Polen hast du nicht schlafen können: Die Nacht vor dem 10. Juli 1971 – erinnert man sich? Das Zimmer, das nicht auskühlen will. Die Mücken. Die Kindheitsnächte am Ende der großen Ferien. Schlaflos, aber noch ohne die Kopfschmerzen, die sich jetzt unweigerlich einstellen werden. Titretta analgica, unterdrücken Schmerz und Schlaf. Mir platzt der Schädel, wer sagte das doch immer? Bruno Jordan. Er nimmt Aspirin. Seine Frau, Charlotte, kennt merkwürdigerweise den Kopfschmerz nicht. Charlotte, von der Nelly doch das meiste geerbt hat, weiß gar nicht was das ist: Kopfschmerzen. Die Glückliche. Ihr Mann denkt, ihm springt der Kopf. Er verzieht das Gesicht zu einer Schmerzgrimasse und legt vorsichtig eine Handfläche an die Stirn, die andere an den Hinterkopf. Migräne ist es also nicht gewesen, woran er litt. Was das nur immer ist.
    Spannung also. Eine Art Angst, zugegeben. Ein Halswirbel kann ausgerenkt sein. Die zunehmende Versteifung der Schulterpartie kann ihren Schmerzdruck an den Kopf weitergeben. Aber auch ein Zwiespalt kann keine andere Möglichkeit finden, sich auszudrücken ... Wenn

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