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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Und wie sie geleugnet hätte!
    Der Kuckuck, immer noch. Sieben und wieder sieben Kuckucksrufe. Es wurde hell. Du zähltest die Vogelrufe erst bis zur Sechsundfünfzig – eine Zahl, die, in Jahren gerechnet, deine Lebenszeit auf hundert aufrunden würde. Der Kuckuck hielt bei hundertzweiundvierzig an, und du lachtest über deine Maßlosigkeit. Keine Rede von Lebensüberdruß.
    Ist Sich-Erinnern an Handeln geknüpft? Das würde ihren Gedächtnisverlust erklären, denn sie handelten nicht. Sie arbeiteten so schwer, daß sie manchmal unheimlich treffsicher sagten: Man ist ja kein Mensch mehr, doch sie handelten nicht und vergaßen ihre Nicht-Handlungen sofort – Schläfer, die nicht zu erwachen wünschten –, behielten aber die ihnen zugeteilten dosierten Aufregungen. Maxe Schmeling gegen Joe Louis – das behielt ein jeder. Nelly, gerade neun Jahre alt, wird in dieser Nacht geweckt. Der Sessel am Radio. Die Decke, in die man sie wickelte, das Glas mit der heißen Zitrone. Die erregte Stimme des Radioreporters, die sich überschlug. Die dreißig Sekunden Gebrüll aus dem Lautsprecher. Dann: Des Sprechers Geheul und des Vaters Verzweiflung. Mit beiden Händen hielt er sich den Kopf, wie er es noch nie getan hatte. Die Negermüssen sich Blei in die Boxhandschuhe stopfen, um unseren großen deutschen Boxer k. o. zu schlagen. Schiebung, rief Bruno Jordan. Schiebung! Schiebung!
    Luftschiff »Hindenburg« bei Landung in Amerika explodiert: Behält auch jeder. Eine Umfrage unter Leuten über fünfzig würde sich lohnen.
    Dieser furchtbare Mangel an Eigentümlichkeit.
    Zu schweigen von den Einmärschen. Ein Volk, das an Einmärsche und Sportsiege gewöhnt wird. Den möcht ich doch mal sehen, der nicht heilfroh ist, wenn der Führer ihn heim ins Reich holt. Da hat Herr Warsinski wieder mal recht. Wie immer. Daß Nelly keine Klimmzüge kann, ist eine Affenschande, die auch durch leichtathletische Hochleistungen kaum zu tilgen ist. Lobenswert war es immerhin, daß sie, Angehörige einer Schwimmernation, mit sieben Jahren – im Jahr der Olympiade – schwimmen lernte: in der Warthe, beim alten Bademeister Wegner, der seine Schüler noch beim Freischwimmen an der Leine gegen die Strömung zog. Nur hätte Horstel Elste, Frau Elstes kleiner Sohn, nicht gerade im gleichen Fluß, wenn auch am anderen Ufer, ertrinken dürfen. Fluß bleibt Fluß. Wie soll man wissen, was einem da zutreibt, wenn man unter Wasser die Augen aufmacht. Leider hat Nelly die Beschreibung des Unglücks, die Frau Elste der Mutter gibt, mit angehört: Wie Horstel unter lose am Ufer treibendes Floßholz geraten sein muß und sich zwischen zwei Stämmen verklemmt hat, wie ihr Mann wieder und wieder nach ihm getaucht ist, ehe er ihn endlich fand, tot; und wie sie, seinen Namen rufend, am Ufer auf und ab lief: O Frau Jordan, meinem schlimmsten Feind wünsch ich das nicht!
    Nun will Nelly nicht mehr in der Warthe baden gehen,überempfindlich, wie sie ist. Zu viel Phantasie. Zu Weihnachten, als sie das Akkordeon bekommen und in ausreichendem Maß Überraschung und Freude geheuchelt hat (Annemarie, das neue Mädchen, hatte ihr längst den schwarzen Kasten unten im Kleiderschrank der Eltern gezeigt, und Nelly hatte sich längst eingestanden, daß sie eigentlich keine Lust hatte, Akkordeon spielen zu lernen); als der von Schnäuzchen-Oma gekochte Grünkohl gegessen ist (Gänseklein, fettes Schweinefleisch, eine Handvoll Grütze zum Binden); als eine friedliche Müdigkeit sie ergriff, kam einer der aufgeregten Alarmanrufe von Tante Liesbeth Radde, ihren nun dreijährigen Sohn Manfred betreffend; Vetter Manni fieberte. Tante Liesbeth, vor Angst fast von Sinnen, war beinahe sicher, ihr Sohn sei von einer »ansteckenden Gehirnhautentzündung« befallen. Der Schrecken hieb Nelly die Beine weg: Gestern noch hatte der befallene Vetter auf ihrem Schoß gesessen. Sie mußte sich nun vorstellen, wie ihre Familie Glied für Glied von der ansteckenden Krankheit hinweggerafft wurde. – Vetter Manni hatte dann eine kleine Erkältung. Nelly hat ihn und alle schon tot gesehn.
    Ob es denn wahr sei, daß die Grundstruktur eines Menschen bis zu seinem fünften Lebensjahr festgelegt ist. Keiner, sagt der Fernsehpsychologe, erwarte auf diese Frage wohl die eindeutige Antwort »Ja« oder »Nein«. Grundmuster allerdings würden früh eingeritzt. Zum Beispiel die Erfahrung, daß man sich beliebt machen muß, um geliebt zu werden. Früher übrigens hat man die Zirbeldrüse für den Sitz der

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