Kindheitsmuster
die linke Hand an den noch kaum geschwollenen Hals gelegt, anklagend geäußert, sie kriege keine Luft? Was dann ein Alltagsvorgang wurde: die Mutter, am Tisch nach Luft schnappend, der Vater, den Rauch aus den Fenstern wedelnd, Durchzug aber vermeidend, weil Charlotte ihn nicht vertrug. Stummfilm an Stelle der Rede.
Keine Aussagen, auch später nicht. Wir hatten alles, was wir uns wünschen konnten. Der Sprache mächtig zu sein stand nicht auf ihrem Wunschzettel. Wenn wir nicht zufrieden gewesen wären – Dresche hätte uns da gehört. Wer das Gegenteil behauptet, muß nicht bei Troste sein. Charlotte, die Hand an der immer stärker anschwellenden Schilddrüse, Türen werfend, den Ladenverfluchend, war nicht bei Troste, doch wußte sie es nicht und vergaß es später vollständig über dem dringenden Wunsch, glücklich gewesen zu sein.
In dieser Nacht – erst gegen Morgen, als der Kuckuck im Wäldchen am Kanal zu rufen anfing – wurde dir klar, daß du die Erinnerung, dieses Betrugssystem, zu fürchten, daß du, indem du sie scheinbar vorzeigst, in Wirklichkeit gegen sie anzugehen hast. Die Nachrichtensperre ist noch nicht aufgehoben. Was die Zensur passiert, sind Präparate, Einschlüsse, Fossilien mit einem furchtbaren Mangel an Eigentümlichkeit. Fertigteile, deren Herstellungsprozeß – an dem du, wie du nicht leugnen wirst, beteiligt bist – zur Sprache gebracht werden muß.
Im Zeitalter universalen Erinnerungsverlustes (ein Satz, der vorgestern mit der Post kam) haben wir zu realisieren, daß volle Geistesgegenwart nur auf dem Boden einer lebendigen Vergangenheit möglich ist. Je tiefer unsere Erinnerung geht, um so freier wird der Raum für das, dem all unsere Hoffnung gilt: der Zukunft. (Nur daß es, wie dir in jener Nacht deutlich bewußt war, um so vieles leichter ist, Vergangenheit zu erfinden als sich zu erinnern; und daß die Frage, ob denn die volle Geistesgegenwart wirklich benötigt werde und wozu, dir als möglicher Einwand dämmerte.)
Was bedeuten übrigens Wörter wie »tief« und »flach«, auf unsere Erinnerung bezogen? Ist es »flach«, zu registrieren, daß jenes Kind (her mit dem fremden Namen; mit einer Person, deren Leben dir einfallen kann wie ein fremdes; an die man Hand legen, in die man eindringen kann – wie ein Mörder. Ein Arzt. Ein Liebhaber), daß Nelly Jordan anfing, ihre Schritte abzuzählen? Wasman Zählzwang nennt. Auf der Grundlage der Glückszahl Sieben bewältigte sie den Schulweg: die sieben Schritte von einem Baum bis zum nächsten; von einem Zaunpfahl, einem Stein zum anderen; die sieben Schritte zwischen zwei Schatten, zwischen zwei starken Herzschlägen.
Die Zahl Sieben trat ungefähr um die gleiche Zeit ihre Herrschaft über Nelly an, da Lehrer Borchers in ihrer Klasse den Religionsunterricht übernahm. Borchers, der, ein hagerer, düsterer Mensch, kein Mittel scheute, in seinen Klassen das strikteste Redeverbot durchzusetzen. Nelly, nicht schwatzhaft, durchbrach das Verbot (mit einem einzigen Wort, das sie Gundel Neumann zuflüsterte, die vor ihr saß: Endlich!), als eine Schülerin aus einer höheren Klasse mit dem »Umlauf« eintrat, einer blauen Mappe, in der Mitteilungen der Direktion an die Lehrer verbreitet wurden.
Lehrer Borchers sah alles, hörte alles, ahndete alles. In einem Ton, den man »schneidend« nennen muß, rief er Nellys Namen auf, befahl ihr, der ein unbändiger Schrecken in die Glieder fuhr, vorzutreten. Sieben Schritte bis zur Tafel, vor der Strafen verkündet und sofort vollstreckt wurden. Lehrer Borchers in aller Ruhe mit der fremden Schülerin beschäftigt; Nelly, deren Gehirn in rasender Schnelle immer wieder bis sieben zählt, die Hände befehlsgemäß auf dem Rücken, der Mund, der grinst (o make me a mask!): Was tut sie »danach«? Ein Mensch, der öffentlich geschlagen wurde, kann nicht weiterleben, das weiß sie. Lehrer Borchers, der sich ihr endlich zuwendet, stellt ihr die törichte Frage, ob sie gesprochen habe, und Nelly antwortet wahrheitsgetreu, wenn auch leise, mit Ja. Worauf Borchers, derpräzis und hart zuzuschlagen pflegt, zum sprachlosen Staunen der Klasse eine Schülerin, die eines seiner Verbote verletzt hat, unbestraft gehen läßt: Weil du dein Vergehen ehrlich zugegeben hast. Die Klasse, die die trotz allem Geschlagene für einen Sieger hält (ein Vorgang, zu dessen Wiederholung sie bis ins Endlose verurteilt scheint). Doppelt gedemütigt, weil belobt für Ehrlichkeit, wo jedes Leugnen sinnlos gewesen wäre:
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