King of the World
aus, ließ er sich am Eßtisch und in Bars häufig über die Notwendigkeit schwarzer Selbstbestimmung aus. Seine tiefe Bewunderung galt Marcus Garvey, dem führenden schwarzen Nationalisten nach dem Ersten Weltkrieg und einem der ideologischen Wegbereiter Elijah Muhammads. Er gehörte nie einer Garvey-Organisation an, doch wie viele Schwarze in den zwanziger Jahren bewunderte er Garveys Forderungen nach Rassenstolz und schwarzer Unabhängigkeit, wenn vielleicht auch nicht den Gedanken einer Rückkehr nach Afrika.
Wie jedes schwarze Kind seiner Generation lernte Cassius Clay rasch, daß er, wenn er sich zu weit aus seinem Viertel entfernte – beispielsweise in das weiße Viertel Portland –, Rufe wie »Nigger« oder »Nigger go home« hören würde. Die Vorträge seines Vaters am Eßtisch waren nicht nötig, um ihn schon in jungen Jahren rassenbewußt zu machen. Kentucky war und ist ein komplizierter Grenzstaat. Im Bürgerkrieg fiel er nicht von der Union ab, obwohl seine Bewohner mehrheitlich mit den Konföderierten sympathisierten. In Kentucky herrschte Rassendiskriminierung, wenn auch nicht so stark wie in Mississippi oder Alabama.
Im Zentrum Louisvilles durften Schwarze nur in den Geschäften in der Walnut Street zwischen der Fifth und der Tenth einkaufen. Die Hotels waren nach Rassen getrennt. Die Schulen de facto ebenfalls, wobei es erste Anzeichen einer Durchmischung gab, sogar noch vor dem berühmten Prozeß
Brown vs. Board of Education
, in dem das Oberste Bundesgericht die Rassentrennung an Schulen für verfassungswidrig erklärte. Es gab »weiße Geschäfte« und »Negergeschäfte«, »weiße Parks« und »Negerparks«. In den meisten großen Kinos der Stadt wie dem Savoy saßen die Weißen im Parkett, die Schwarzen dagegen im zweiten Rang, die übrigen – das Loew’s, das Mary Anderson, das Brown, das Strand, das Kentucky – waren nur für Weiße; das Lyric war Schwarzen vorbehalten. Im öffentlichen Personenverkehr saßen die Schwarzen hinten, die Weißen vorn. Der Chickasaw Park war schwarz, der Shawnee Park gemischt, alle anderen waren weiß. »So war das Leben eben«, sagte Beverly Edwards, ein ehemaliger Klassenkamerad Clays. »Kentucky gilt als das Tor zum Süden, doch was Rassenfragen betraf, war es bei uns kaum anders als im tiefsten Süden.«
Blyden Jackson, ein schwarzer Autor aus Louisville, warMitte Vierzig, als Cassius Clay ein Kind war. Er schrieb, unter »Jim Crow«, der Rassentrennung, habe er »die verbotene Stadt, das Louisville, wo die Weißen lebten, nur durch einen Schleier wahrnehmen können. Es war das Louisville der Innenstadthotels, des Parketts im Kino, der High Schools, über die ich in der Tageszeitung las, der verbotenen Orte und Lokale, der weißen Restaurants und Country Clubs, der anderen Seite der Bankschaufenster und natürlich des Allerheiligsten, Büros, in die ich nur als bescheidener Kunde oder Hilfsaufseher hineinkam. Auf meiner Seite des Schleiers war alles schwarz: die Häuser, die Menschen, die Kirchen, die Schulen, der Negerpark mit der Negerparkpolizei … Ich wußte, daß es zwei Louisvilles gab und in Amerika zwei Amerikas. Ich wußte auch, welches dieser Amerikas meines war. Ich wußte, daß es Dinge gab, die ich nicht tun sollte, Ehren, die ich nicht anstreben sollte, Menschen, mit denen ich nie reden sollte, sogar Gedanken, die ich niemals denken sollte. Ich war ein Neger.« Ja, Cassius Clay war in mancher Hinsicht anderen schwarzen Kindern gegenüber wohl im Vorteil, doch dieser Vorteil war nichts verglichen mit den Freiheiten, die ihm versagt waren.
Als Clay vier Jahre alt war, fragte er seine Mutter: »Mama, wenn du in den Bus steigst, denken dann die Leute, du bist eine weiße oder eine farbige Frau?« Als er fünf war, fragte er seinen Vater: »Daddy, ich geh zum Kaufmann, und der Kaufmann ist weiß. Ich geh in die Drogerie, und der Mann in der Drogerie ist weiß. Der Busfahrer ist weiß. Was machen denn die Farbigen?« Cassius Clay hatte Wunden von den geballten Kränkungen der amerikanischen Apartheid in der Mitte des Jahrhunderts: der Anblick seiner Mutter, der in einer Imbißbude im Zentrum ein Glas Wasser verweigert wurde; Weiße, die sich beim Kentucky State Fair vor ihnen in die Schlange drängten, als wäre es ihr gottgegebenesRecht; die Scham, wenn seine Mutter auf die andere Seite der Stadt fuhr, um bei weißen Familien Fußböden und Toiletten zu putzen. Daß die Clays der schwarzen Mittelschicht angehörten, ersparte ihnen diese
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