King of the World
verstecken, doch kein Loch war tief genug. Er hatte keine Maskierung, also lieh er sich von einemBetreuer dessen Hut und zog die Krempe herab, als wollte er darin verschwinden. Er ließ sich von seinen Freunden und seiner Familie in den Arm nehmen und sich von ihnen trösten, doch er haßte ihr Mitleid. Und als sie alle weggingen, seine Freunde, seine Familie, die Reporter, verzog sich Floyd in sein Haus nördlich von New York. Tagelang saß er bei zugezogenen Vorhängen im Wohnzimmer. »Ich habe geglaubt, mein Leben ist vorbei«, sagte Patterson zu mir. Er war nur einen Schritt entfernt von seinen Ursprüngen, einen Schritt von Bedford-Stuyvesant, dem Slum seiner Kindheit. Es war, als erwartete er jeden Moment, daß sein Fernseher, der Herd und die Couch abgeholt und draußen in seinem Garten aufgestapelt würden und alle seine Nachbarn, seine weißen Nachbarn, sehen würden, daß er wieder ein Niemand war.
Floyd konnte nicht schlafen, jedenfalls nicht lange. Wie er in seiner Autobiographie schrieb, stieg er mitten in jener Nacht aus dem Bett und ging nach unten in sein Arbeitszimmer. Dort fand ihn nach einer Weile, kurz vor Tagesanbruch, seine Frau Sandra.
»Floyd«, sagte sie, »was bringt es denn, wenn du hier im Dunkeln sitzt und grübelst?«
»Bringt es denn mehr, wenn ich im Dunkeln im Bett liege?«
Als er aufwachte, sah er von der Couch in die Augen seiner dreijährigen Tochter Jeannie. Sein Gesicht war noch immer voller Schwellungen, und daher drückte er Jeannie fest an sich, damit sie keine Angst bekam. Später überredete Sandra ihn, nach oben zu kommen und noch einmal richtig zu schlafen. Doch nach einer Weile sah sie zu ihrem Mann hin und war entsetzt.
»Was ist denn mit deinem Ohr?« sagte sie.
Pattersons Kissen war voller Blut. Johanssons Schläge hatten ihm das Trommelfell zerrissen.
Seine Depression verschlimmerte sich. Tagelang saß er allein da, las nichts, redete nichts, stieß jeden weg. In drei Wochen ging er nur zweimal aus dem Haus. Wie er später sagte, betrauerte er seinen eigenen Tod als Weltmeister. »Daddy ist krank«, sagte Jeannie immer wieder. »Daddy ist krank.« Pattersons Depression dauerte fast ein Jahr.
Boxer, davon war Floyd überzeugt, haben immer Angst, allesamt, besonders Boxer auf hohem Niveau. »Wir fürchten uns nicht vor Verletzungen, sondern vor der Niederlage. Nirgends ist eine Niederlage so schlimm wie im Ring«, sagte er einmal. »Ein Profiboxer, der k. o. oder schwer geschlagen wird, leidet so, daß er es nie vergißt. Er wird im grellen Scheinwerferlicht vor Tausenden von Augenzeugen geschlagen, die ihn beschimpfen und bespucken, und er weiß, daß auch noch viele Tausende am Fernseher und im Kino zusehen, und er weiß, daß bald die Leute vom Finanzamt kommen – die versuchen immer, ihren Anteil zu kriegen, bevor er ganz am Ende ist –, und der Kämpfer kann die Schuld an seiner Niederlage weder dem Trainer noch dem Manager noch sonstwem zuschieben, wobei er aber auch sicher sein kann, daß diese, wenn er gewinnt, sich die Ehre erweisen lassen. Ein Kämpfer, der verliert, verliert mehr als nur seinen Stolz und den Kampf; er verliert einen Teil seiner Zukunft, er ist dem Slum, aus dem er kam, wieder einen Schritt näher gerückt.«
Nie gab es einen sensibleren und bezüglich seiner Ängste ehrlicheren Schwergewichtsweltmeister als Floyd Patterson. Er war der erste Profisportler, der nach heute gängigen Kriterien von der Presse behandelt wurde, eine Art freudianischer Sportjournalismus, der über den Ring hinaus in die Psyche drang.
Victory Over Myself
, Pattersons Autobiographie aus der Feder von Milton Gross, einem Kolumnistender
New York Post
, sowie seine Bekenntnisse Gay Talese von der
New York Times
und später dem
Esquire
gegenüber hatten durchaus Anklänge an Richard Wrights
The Man Who Lived Underground
und Ralph Ellisons Roman
Unsichtbar.
Nun war Patterson gewiß nicht der erste Boxer, der Angst empfand, doch er war der erste, der darüber so frei in der Öffentlichkeit sprach. Dazu wurde er im Boxraum erzogen. Cus D’Amato trainierte Patterson nicht nur in der Geraden und der »Peekaboo«-Verteidigung, einer tiefen Pendelhaltung, sondern auch in der Introspektion. D’Amato war der einzige moderne Psychoanalytiker, der mit einem Spuckeimer in der Hand und einem Q-Tip zwischen den Zähnen herumlief. In den Ansprachen an seine Boxer lehrte D’Amato, da alle Dinge relativ gleich seien, werde der Boxer, der seine eigenen Ängste erkennt,
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