Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
übergroßen Fenstern und breiten Veranden, von massiven Eichen und alten zerzausten Palmen umgeben.
Im Gegensatz dazu war das Pflegeheim, aus dem Agnes verschwunden war, ein zweistöckiger viktorianischer Bau mit einem Kutschenhaus dahinter. Die Seitenwandung war hellgrau, das Fachwerk erstrahlte in frischem Weiß. Das steile Spitzdach bestand aus Schieferplatten, die sich wie Fischschuppen überlappten. Im zweiten Stockwerk waren eine grob gezimmerte Plattform und eine Holztreppe als Feuertreppe angebaut worden. Das Haus stand im Schatten unzähliger Bäume auf einem großen Eckgrundstück mit Blumenbeeten und wurde von Hecken umsäumt, die von den hohen Bogen eines kunstvollen schmiedeeisernen Zauns überragt wurden. Auf dem kleinen Parkplatz am Ende des Grundstücks sah ich mehrere Autos.
Irene hatte ganz offensichtlich nach mir Ausschau gehalten. Ich bezahlte den Taxifahrer, und als ich ausstieg, kam sie auf dem Gehsteig auf mich zu. Ihr folgte ein Mann, den ich für Clyde Gersh hielt. Wieder war ich betroffen, wie kränklich sie wirkte. Sie war spindeldürr und schien nicht ganz sicher auf den Beinen zu sein. Sie trug ein Hemdblusenkleid aus jadegrüner Seide, das für die geisterhafte Blässe ihrer Haut wenig vorteilhaft war. Zwar hatte sie sich mit ihrem Aussehen große Mühe gegeben, doch die Wirkung war erschreckend. Die Grundierung ihres Make-ups war viel zu pfirsichrosa, und die falschen Wimpern betonten ihre Augen so, dass sie geradezu hervorquollen. Die Rougeflecken auf jeder Wange sahen aus, als habe sie hohes Fieber. »O Kinsey! Gott segne Sie.« Mit zitternden, eiskalten Händen griff sie nach mir.
»Wie geht es Ihnen, Irene? Haben Sie eine Spur von ihr gefunden?«
»Leider nein. Die Polizei hat die Vermisstenanzeige aufgenommen und sie zur — zur... Oh, wie nennt man das?«
»Zur Fahndung ausgeschrieben«, meldete sich Clyde zu Wort.
»Ja, das war’s. Außerdem sucht ein Streifenwagen die Gegend ab. Mehr können sie vorläufig nicht tun. Aber ich bin ganz einfach krank vor Sorge.«
Clyde streckte die Hand aus und stellte sich vor.
»Oh, ich bitte um Entschuldigung«, sagte Irene nervös. »Das ist Miss Millhone. Wo habe ich nur meine Gedanken?«
Clyde Gersh war etwa Ende fünfzig, so um die zehn Jahre älter als seine Frau. Er war groß und ging gebeugt, der teuer aussehende Anzug schlotterte um seine Gestalt. Sein graues Haar wurde allmählich dünn, er hatte ein faltiges Gesicht, und seine Stirn war sorgenvoll gerunzelt. Seine Gesichtszüge waren die eines Mannes, der sich mit seinem Schicksal abgefunden und resigniert hatte. Der Gesundheitszustand seiner Frau, ob tatsächlich so schlecht oder nur eingebildet, musste ihn sehr belasten. Er strahlte müde Geduld aus. Plötzlich fiel mir ein, dass ich keine Ahnung hatte, was er beruflich machte. Irgendetwas, das es ihm erlaubte, sich seine Zeit selbst einzuteilen und italienische Schuhe zu tragen. Anwalt? Steuerberater?
Wir schüttelten uns die Hand. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss Millhone«, sagte er. »Schade, dass es unter so traurigen Umständen geschieht.«
»Ganz meinerseits. Aber sagen Sie bitte >Kinsey<, das ist mir lieber. Was kann ich tun, um Ihnen zu helfen?«
Er warf seiner Frau einen um Entschuldigung bittenden Blick zu. »Darüber haben wir eben gesprochen. Ich halte es für das Beste, wenn Irene hier bleibt. Sie kann eine Weile die Festung halten, während wir beide von Haus zu Haus gehen. Ich habe dem Leiter dieser miesen Institution schon erklärt, dass wir ihn verklagen werden, wenn Agnes etwas passiert...«
Irene warf ihm einen hastigen Blick zu. »Darüber können wir später reden«, sagte sie zu ihm. Und zu mir. »Das Heim hat sich großartig verhalten. Sie meinen, dass Mutter wahrscheinlich verwirrt war. Sie wissen, wie eigenwillig sie ist, aber ich bin sicher, es geht ihr gut.«
»Natürlich geht es ihr gut«, antwortete ich, obwohl ich meine Zweifel hatte.
Clydes Miene verriet mir, dass er ungefähr so zuversichtlich war wie ich. »Ich will gerade aufbrechen«, sagte er. »Wollen Sie mitkommen? Ich denke, wir sollten die Häuser in der Concorde Avenue bis hinunter zur Molina Street kontrollieren und uns dann nach Norden wenden.«
»Ich will mitgehen, Clyde«, sagte Irene. »Ich bleibe nicht allein hier.«
Ein ärgerlicher Ausdruck flog über sein Gesicht, doch er nickte. Er ließ alle Einwände beiseite, die er gehabt haben mochte, vielleicht aus Rücksicht auf mich. Er erinnerte mich an einen
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