Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
Gehsteigrand, bis er vorüber war. Als wir die Straße überquerten, schob ich die Hand unter Irenes Arm und stützte sie, wie Dietz mich stützte.
Die dunkelgrüne Seide ihres Kleides schien leicht zu vibrieren. Ich musterte sie unsicher. Ihr Haar war durch das jahrelange Bleichen weißblond geworden und sehr dünn, als sei es ihr endlich gelungen, den glanzlosen und brüchigen Strähnen die letzte Spur von Farbe zu entziehen. Sie hatte fast keine Brauen, nur zwei braune Linien, die sie mit dem Stift nachgezogen hatte, hohe Bögen, so wie sie ein Kind einem glücklichen Gesicht gezeichnet hätte. Man sah ihr noch an, dass sie früher eine Schönheit gewesen war. Sie hatte feine Züge, und die blauen Augen waren ungewöhnlich klar. Eine falsche Wimper hatte sich gelöst und ragte aus dem Wimpernkranz heraus wie eine winzige Feder. Ihre Haut war zu blass, um gesund zu sein, hatte jedoch eine bemerkenswerte Glätte. Sie erinnerte mich an eine obskure Schauspielerin aus den vierziger Jahren, die nur eine einzige Rolle gespielt hatte, an jemanden, bei dessen Anblick man sich erstaunt fragt: Was, die lebt auch noch? Sie legte die zitternde Hand auf die meine, und ihre Finger waren so eiskalt, dass ich erschrocken zurückzuckte. Ihr Atem ging schnell und flach.
»Irene, mein Gott, Sie haben Hände wie Eis. Geht es Ihnen nicht gut?«
»Das passiert mir hin und wieder. Es ist gleich vorbei.«
»Suchen wir uns einen Platz, wo wir uns hinsetzen können«, sagte ich. Wir näherten uns einem dreistöckigen Schindelhaus, hoch und schmal, auf drei Seiten von einer Veranda umgeben. Der Garten war sonnig, das Gras frisch gemäht, die Blumenbeete ein bisschen verwildert. Ich wusste, dass es eine Pension war, denn man hatte Rosie und mir seinerzeit die Adresse gegeben. Im Haus selbst war ich nie gewesen, denn sobald Rosie festgestellt hatte, dass es keine Rampe für einen Rollstuhl gab, hatten wir es von unserer Liste gestrichen. Ich erinnerte mich an den Besitzer, einen energischen Kerl in den Siebzigern, freundlich zwar, jedoch offensichtlich nicht bereit, jemanden aufzunehmen, der nicht gehfähig war. Als ich die quietschende Gartentür öffnete, merkte ich, dass ein Vorhang sich bewegte und jemand aus dem Fenster sah. Den Leuten hier schien nicht viel zu entgehen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Agnes auch nur einen halben Block weit gekommen sein konnte, ohne von jemandem entdeckt worden zu sein.
Auf der vorderen Veranda ließ Irene sich auf die unterste Stufe sinken. Sie legte den Kopf zwischen die Knie. Ich presste ihr die Hand auf den Nacken und beobachtete sie aufmerksam. Sie atmete keuchend.
»Wollen Sie sich hinlegen?«
»Nein, bitte nicht. Es geht mir gleich wieder gut. Es ist nur mein Asthma, das sich wieder einmal meldet. Nur kein Aufhebens, bitte! Lassen Sie mich nur ein bisschen hier sitzen.«
»Versuchen Sie langsamer zu atmen, ja? Sie fangen an zu hyperventilieren. Ich will nicht, dass Sie mir ohnmächtig werden.«
Ich sah mich auf der Straße nach Clyde um, entdeckte ihn aber nirgends. Dann stieg ich die Stufen zur Haustür hinauf. Der Pensionsinhaber kam in dem Moment heraus, in dem ich auf die Klingel drücken wollte.
Er war ein Mann, der in seiner Jugend sehr kräftig gewesen sein mochte. Die früher muskulösen Schultern waren im Alter schlaff geworden und hingen unter dem Hemd leicht nach unten. Er war glatt rasiert und fast kahl. Mit der weit nach hinten reichenden Stirn hatte er etwas Babyhaftes an sich. Er hatte Tränensäcke unter den Augen und auf der linken Wange einen Leberfleck, der aussah wie eine Rosine. »Kann ich etwas für Sie tun?« Er sah zu Irene hinüber, und ich folgte seiner Blickrichtung. Wenn sie ohnmächtig wurde, dann hatte ich ein echtes Problem.
»Sie wird schon wieder. Ihr ist nur ein bisschen schwindlig, und sie muss sich ausruhen. Aber es geht um etwas anderes. Aus dem Pflegeheim ein Stück weiter oben an der Straße ist eine Frau verschwunden. Wir befragen jetzt die Nachbarn, weil wir hoffen, dass jemand sie gesehen hat.«
Sein Blick war jetzt auf mich gerichtet, und er musterte mich forschend. »Sie kommen mir bekannt vor. Kenne ich Sie?«
»Kinsey Millhone«, sagte ich. »Ich war vor ein paar Wochen mit einer Freundin bei Ihnen...«
»Stimmt, stimmt, stimmt. Ich erinnere mich jetzt. Lebhafter kleiner Rotschopf mit einer Schwester, die im Rollstuhl sitzt. Es hat mir Leid getan, dass ich sie nicht aufnehmen konnte. Ist sie diejenige, die Sie suchen?«
»Nein,
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