Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
Lieutenant Dolans Büro an und hinterließ Dietz die Nachricht, dass er mir ins Pflegeheim nachkommen sollte. Der Diensthabende notierte sich die Adresse. Als das getan war, humpelte ich vorsichtig die Treppe hinunter. Ich brauchte dringend Bewegung. An meinem ganzen Körper bekam ich die Unfallfolgen zu spüren, und meine Gelenke waren so steif, als wären sie verrostet. Bei bestimmten Stellungen und Bewegungen schoss mir ein so quälender Schmerz durch den Nacken, dass ich leise stöhnte. Hoffentlich wirkte die Schmerztablette bald.
Ich fand eine Jacke und meine Handtasche, überzeugte mich, dass meine kleine .32er da war und lief zur Tür, während ich in der Tasche nach meinem Autoschlüssel kramte. Wo, zum Teufel, war er nur? Verblüfft blieb ich stehen, doch dann dämmerte es mir. Ich hatte kein Auto mehr. Der VW stand noch immer in Brawley in der Karosseriewerkstatt. Ach, verdammt!, dachte ich.
Ich machte auf dem Absatz kehrt und bestellte telefonisch ein Taxi. Inzwischen hatte ich schon angefangen, mir Dietz’ Vorsichtsmaßnahmen zu Eigen zu machen. Ich hatte nicht die Absicht, mich für alle Welt deutlich sichtbar draußen am Gehsteigrand zu präsentieren. Gefügig wartete ich und stellte mich dazu im unteren Bad in die Wanne, weil ich von dort Ausschau nach dem Taxi halten konnte. Als es vorfuhr, schnappte ich mir zum zweiten Mal Jacke und Handtasche. Gedankenlos öffnete ich die Haustür und löste den Alarm aus. Das Geheul erschreckte mich so, dass ich mir fast in die Hose gemacht hätte.
Henrys Hintertür flog auf, und er stürzte mit einem Hackmesser in der Hand in den Hof. Außer einer türkisfarbenen Unterhose hatte er keinen Faden am Leib, und sein Gesicht war so bleich wie Brotteig. »Mein Gott, was ist passiert? Geht es dir gut?«
»Es geht mir gut, Henry. Der Alarm ist versehentlich losgegangen.«
»Dann wieder hinein mit dir! Ich bin zu Tode erschrocken. Wollte gerade unter die Dusche, als das verdammte Ding zu jaulen anfing. Warum bist du hier draußen? Dietz hat gesagt, dass du schläfst. Du siehst schrecklich aus. Geh ins Bett.« Er ist ganz konfus vor Angst, dachte ich.
»Hörst du wohl auf, dir Sorgen zu machen, Henry? Es gibt keinen Grund, hysterisch zu werden. Irene Gersh hat angerufen, und ich bin unterwegs ins Pflegeheim, um ihr bei der Suche nach ihrer Mutter zu helfen. Draußen wartet ein Taxi auf mich.«
Henry hielt mich an der Jacke fest. »Du bist nirgendwohin unterwegs«, sagte er zänkisch. »Du wirst hübsch warten, bis Dietz wieder da ist. Dann kannst du mit ihm fahren.«
Ich verlor allmählich die Geduld und zerrte ihm die Jacke aus der Hand. Wir benahmen uns wie Kinder, die auf dem Schulhof stritten. Das Hackmesser in seiner Hand machte es für mich ein bisschen schwierig.
Als er das zweite Mal nach meiner Jacke griff, hielt ich sie in die Höhe und von ihm weg. »Henry«, sagte ich warnend, »ich bin ein freier Mensch. Dietz weiß, dass ich ins Pflegeheim will. Ich habe Dolans Büro angerufen und mit ihm gesprochen. Er ist schon unterwegs.«
»Du hast überhaupt nicht angerufen, ich kenn dich doch«, sagte Henry. »Du lügst wie gedruckt.«
»Ich habe angerufen.«
»Aber nicht mit ihm selbst gesprochen.«
»Aber ich habe eine Nachricht für ihn hinterlassen, das ist genauso gut.«
»Und wenn er sie nicht bekommt?«
»Dann kannst du ihm sagen, wo ich bin. Ich gehe.«
»Nein, das tust du nicht.«
Ich musste mich noch gut fünf Minuten lang streiten, bevor ich das Grundstück verlassen konnte. Der Taxifahrer hatte inzwischen zweimal gehupt und dann einen Blick ums Hauseck geworfen, weil er um sein Fahrgeld fürchtete. Ich weiß nicht, was er sich gedacht haben mochte, als er uns erblickte — mich mit meinem zerbeulten Gesicht und Henry in seinen Calvin-Klein-Unterhosen mit dem Hackmesser in der Hand. Glücklicherweise kannte Henry den Mann, und nach zahlreichen Beteuerungen von allen Seiten, war er endlich damit einverstanden, dass ich fuhr. Ihm gefiel es zwar nicht, doch er konnte nicht viel dagegen tun.
Der Taxifahrer schüttelte mit spöttischer Empörung den Kopf. »Ziehen Sie sich eine Hose an, Pitts. So könnten Sie verhaftet werden.«
Kurz vor zwei erreichte ich das Pflegeheim an der Upper East Side. Als das Taxi anhielt, merkte ich, dass ich die Gegend kannte. Rosie und ich hatten hier überall nach einer Unterkunft mit Verpflegung für ihre Schwester Klotilde gesucht. Die meisten Häuser waren ziemlich pompös: weitläufig, mit hohen Decken,
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