Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
nein, es ist jemand anders«, sagte ich. Ich hob die Hand über meinen Kopf und beschrieb Agnes noch einmal. »Groß, sehr dünn. Sie wird seit dem frühen Morgen vermisst, und wir können keine Spur von ihr entdecken. Ich kann nicht glauben, dass sie weit gekommen ist.«
»Manche alten Leute sind schnell wie die Wiesel«, sagte er. »Wenn man nicht aufpasst, können sie einen ganz schön zum Narren halten. Ich hätte Ihnen ja gern geholfen, aber ich habe hinten gearbeitet. Haben Sie die Polizei verständigt?«
»Das zuallererst. Soviel ich weiß, wurde die ganze Umgebung abgesucht. Wir dachten nur, wir sollten es noch einmal versuchen.«
»Das passiert ab und zu, besonders in unserer Gegend. Gewöhnlich tauchen sie wieder auf.«
»Hoffen wir’s. Vielen Dank jedenfalls.«
Sein Blick schweifte ab zu Irene, die noch immer auf der Stufe saß. »Wie wäre es mit einem Glas Wasser für Ihre Freundin?«
»Es geht ihr gleich wieder gut. Trotzdem — vielen Dank.« Ich beendete die Unterhaltung mit der üblichen Bitte, uns zu helfen. »Hier, nehmen Sie meine Karte. Könnten Sie’s mich wissen lassen, falls Sie die Frau sehen oder mit jemandem sprechen, dem sie aufgefallen ist? Wenn Sie mich nicht erreichen, verständigen Sie bitte das Pflegeheim.«
Er nahm die Karte. »Aber gern«, sagte er. Im Haus rief jemand etwas, eine schwache Stimme, leicht gereizt. Er entschuldigte sich und ging hinein.
Ich half Irene auf. Wir gingen durch die Gartentür hinaus. Irene war nicht ganz sicher auf den Beinen, sah erschöpft und abgespannt aus.
»Ich glaube wirklich, ich sollte Sie zurückbringen«, sagte ich.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Noch nicht. Es geht mir besser.« Um ihre Behauptung zu unterstreichen, straffte sie den Rücken.
Auf ihrer Stirn bildete sich ein feiner Schweißfilm, doch sie schien entschlossen weiterzumachen. Ich hatte meine Zweifel, konnte aber kaum etwas tun. »Gut, noch ein Haus, und dann treffen wir uns mit Clyde.«
Das Nachbarhaus war ein kastenförmiger Bungalow mit einem ziemlich flachen Dach, anderthalb Stockwerke mit rehbraunen Schindeln verkleidet. Es hatte eine breite, offene Veranda, und der Vorbau ruhte auf kräftigen Ziegelpfosten mit einem Holzgeländer. Wir gingen den Weg hinauf, als plötzlich ein Teil des Holzgeländers splitterte. Das rohe Holz öffnete sich wie eine Blüte. Ich hörte einen dumpfen Knall, und Glas klirrte. Ich machte einen Sprung, weil ich dachte, ein Erdstoß lasse das Gebäude auseinander brechen. Zur Linken hörte ich Dietz’ Porsche um die Ecke röhren. Ich drehte mich nach ihm um und stellte beiläufig fest, dass der Kombi des United Parcel Service noch draußen parkte. Der UPS-Mann kam hinter uns den Weg entlang. Er lächelte mich an, und ich lächelte automatisch zurück. Es war ein großer Mann, muskulös, glatt rasiert, mit lockigem, blondem Haar, leuchtend blauen Augen im gebräunten Gesicht, vollen Lippen und Grübchen in den Wangen. Ich dachte, ich müsse ihn kennen, denn er freute sich offenbar, als er mich sah. Sein Blick war weich, der Ausdruck seines Gesichts sinnlich und warm. Er kam näher und beugte sich mir entgegen, fast als wolle er mich küssen. Er war so nah, dass ich seinen erregenden Körpergeruch wahrnahm, ein Gemisch aus Schießpulver, Aqua-Velva-Rasierwasser und einen Hauch von Fruchtkaugummi. Verblüfft wich ich zurück. Hinter mir knackte Holz, es klang, als habe der Blitz einen Baum getroffen. Das Gesicht vor mir wurde heiß und rot wie das eines Liebhabers im Augenblick höchster Ekstase. Der Mann sagte etwas. Ich schaute auf seine Hände. In der Rechten hielt er etwas Ähnliches wie eine Schlauchtülle. Aber warum trug ein UPS-Mann eigentlich Gartenhandschuhe? Die Tülle blinkte im Licht. Ich blinzelte verständnislos, und dann begriff ich. Ich packte Irene beim Arm, hob sie fast in die Höhe und bugsierte sie die zwei flachen Stufen zur Haustür hinauf.
Über den Lärm erstaunt, öffnete der Bewohner des Hauses, ein Mann mittleren Alters, die vordere Fliegengittertür. Nach seiner Miene zu schließen, erwartete er keinen Besuch. Ich schnappte ihn an der Hemdbrust und schob ihn ins Haus, stieß ihn aus der Feuerlinie, während ich uns seitlich durch die Tür drängte. Ein Fenster ging zu Bruch, Scherben und Splitter flogen uns um die Ohren. Irene und ich stürzten gemeinsam zu Boden. Sie war zu überrascht, um zu schreien, aber ich merkte, dass ihr die Luft wegblieb, als sie auf den kahlen Hartholzdielen aufprallte. Die Tür
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