Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
ging zu und gab die Sicht auf Flur und Treppe frei. Der Hausherr hatte sich ins Wohnzimmer geflüchtet, kauerte neben dem Sofa und schützte seinen Kopf mit den Händen. Er erinnerte mich an einen kleinen Jungen, der sich für unsichtbar hält, weil er die Augen fest zukneift. Eine Kugel riss ein Loch in die Wand. Mörtelstaub flog herein wie eine explodierende Bombe, dahinter stieg eine dünne Wolke auf.
Stille. Ich hörte jemanden rennen, schwere Schritte entfernten sich durch das Gras, und ich wusste instinktiv, dass Dietz die Verfolgung aufnehmen würde. Geduckt watschelte ich wie eine Ente ins Esszimmer und spähte vorsichtig aus dem Seitenfenster, die Augen kaum höher als das Fensterbrett. Dietz lief ums Hauseck herum und verschwand. Hinter mir fing Irene an zu jammern, vor Angst, vor Schmerz, im Schock und völlig verwirrt. Erst jetzt, mit Verzögerung, fühlte ich einen Adrenalinstoß, und mein Herz begann hoch oben in meiner Kehle zu dröhnen. Mein Mund wurde strohtrocken. Ich klammerte mich ans Fensterbrett und legte die Wange an die kalte Wand; die Tapete hatte ein Rosenmuster, braun und rosa auf grauem Grund. Ich schloss die Augen. Im Geist erlebte ich die Szene noch einmal. Zuerst der Mann — das warme Licht in seinen Augen, der Mund zu einem vertrauten Lächeln verzogen. Das Gefühl, dass er mich küssen wollte, die angenehm heisere Stimme, die etwas sagte, dann der Blitz aus der Mündung. Dem Geräusch nach wusste ich, dass er einen Schalldämpfer benutzt hatte, doch ich hatte das Mündungsfeuer gesehen. Das war bei hellem Tageslicht eigentlich nicht möglich, es sei denn, mein Gedächtnis hatte irgendwie das Bild eines früheren Erlebnisses heraufbeschworen. Wie viele Schüsse hatte er abgefeuert? Fünf? Sechs?
Dietz betrat das Haus und kam quer durchs Zimmer auf mich zu. Er war außer Atem, aber sehr beherrscht; er schwitzte, und seine Miene war grimmig. Mit versteinertem Gesicht zog er mich in die Höhe. Dabei bohrte er die Finger in die Oberarme, dass es schmerzte, aber ich brachte keinen Protest über die Lippen.
»Sind Sie in Ordnung?«
Er schüttelte mich, und ich nickte benommen. Er schob mich weg wie eine Lumpenpuppe und ging zu Irene, die vor sich hin greinte wie ein dreijähriges Kind. Sie saß mit gespreizten Beinen auf dem Boden, ihr Rock war verrutscht, ihre Unterarme lagen schlaff in ihrem Schoß. Dietz legte den Arm um sie und zog sie an sich. Mit leiser Stimme beruhigte er sie, beugte sich zu ihr, damit sie ihn hörte. Er fragte sie etwas. Sie schüttelte den Kopf. Sie keuchte, nicht im Stande, mehr als ein paar Worte zu sagen, ohne um Atem zu ringen.
Der Hausherr stand im Flur. Seine Angst war heller Empörung gewichen. »Was ist hier los? Was war das eben? Ein Gangsterkrieg? Ich mach meine Haustür auf und werde um ein Haar umgebracht! Sehen Sie sich den Schaden an! Wer bezahlt mir das?«
»Halten Sie den Mund, und rufen Sie die Polizei«, sagte Dietz.
»Wer sind Sie? So dürfen Sie mit mir nicht sprechen. Das ist ein Privathaus.«
Ich sank im Esszimmer auf einen Stuhl. Durch das Vorderfenster sah ich, dass die Nachbarn sich versammelten, ängstlich aufeinander einredeten — kleine Gruppen, jeweils zwei oder drei. Ein paar hatten sich sogar bis in den Garten vorgewagt.
Was hatte der Mann zu mir gesagt? Noch einmal ließ ich die Szene vor mir ablaufen. Ich hatte mich umgedreht, weil ich den Porsche von Dietz auf der Straße hörte, und als ich mich umdrehte, erwiderte ich automatisch das Lächeln des Mannes hinter mir. Jetzt hörte ich auch seine Worte, verstand endlich, was er im Näherkommen gesagt hatte: »Du gehörst mir, Baby.« Besitzergreifend und vertraulich — und dann diese unglaubliche Hitze in seinem Gesicht, die von sexueller Erregung kam. Tränen stiegen mir in die Augen, trübten mir den Blick. Das Fenster flimmerte. Meine Hände begannen zu zittern.
Dietz tätschelte Irenes Arm und kam zu mir. Er ging neben meinem Stuhl in die Hocke, so dass sein Gesicht mit meinem Kopf auf gleicher Höhe war. »Sie haben sich großartig gehalten. Haben es gut gemacht. Sie konnten absolut nicht wissen, was passieren würde, okay?«
Ich musste die Hände zwischen meine fest zusammengepressten Knie schieben, damit das Zittern sich nicht in meine Arme fortsetzte. Ich sah Dietz ins Gesicht, sah die grauen Augen, die stumpfe Nase. »Er wollte mich umbringen.«
»Nein, das wollte er nicht. Er wollte Sie erschrecken. Umbringen hätte er Sie schon das erste Mal können, in
Weitere Kostenlose Bücher