Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
gehalten haben. Der alte Mann gab sein Pfadfinderehrenwort, er werde die Polizei verständigen, wenn sein Sohn hier auftauchen sollte.«
Ich fühlte, wie sich mein ganzes Inneres zu verkrampfen begann. »Reden wir über etwas anderes.«
»Reden wir übers Zurückschlagen.«
»Morgen«, sagte ich. »Im Moment bin ich nicht in der richtigen Stimmung.«
»Trinken Sie Ihren Tee, und machen Sie sich frisch. Ich warte unten auf Sie.«
Henry hatte ein schmackhaftes Essen zusammengestellt: saftigen Hackbraten, Pilzsoße, Kartoffelbrei, frische grüne Bohnen, selbst gebackene Brötchen, eine Zitronenbaisertorte und Kaffee. Er aß mit uns, sprach nicht viel, beobachtete mich mit sorgenvollen Augen. Dietz musste ihm gesagt haben, er dürfe mir keine Vorwürfe machen, weil ich das Haus verlassen hatte. Es war klar, dass Henry mir gern eine Szene gemacht hätte, doch er war vernünftig genug, den Mund zu halten. Ich hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen, als sei der Anschlag auf mein Leben meine persönliche Untat. Henry studierte die Polizeiberichte, prägte sich Mark Messingers Gesicht und die Einzelheiten der ihm zugeschriebenen Straftaten ein. »Ein übler Kunde«, sagte er zu Dietz. »Sie haben einen kleinen Jungen erwähnt. Wie passt er ins Bild?«
»Messinger hat das Kind seiner Lebensgefährtin gekidnappt. Ihr Name ist Rochelle. Arbeitet in einem Massagesalon in Hollywood. Ich habe vor einer Weile mit ihr gesprochen, die Frau ist total fertig. Der Junge heißt Eric. Er ist fünf und war in einer Kindertagesstätte in der Nähe ihres Arbeitsplatzes untergebracht. Messinger hat ihn vor ungefähr acht Monaten dort abgeholt, und seither hat sie den Kleinen nicht mehr gesehen. Ich habe auch Söhne. Ich würde jeden umbringen, der ihnen etwas täte.« Dietz aß, wie er alles tat, mit unglaublicher Konzentration. Als er den letzten Bissen weggeputzt hatte, lehnte er sich zurück und klopfte automatisch gegen die Hemdtasche, in der früher seine Zigaretten gewesen waren. Dann schüttelte er kurz den Kopf, als mache er sich über sich selbst lustig.
Die beiden wandten sich anderen Themen zu, sprachen über Sport, den Aktienmarkt, politische Ereignisse. Während sie sich unterhielten, sammelte ich die Teller und die übrigen Utensilien ein und trug sie in die Küche. Ich ließ Wasser ins Becken und stellte das Geschirr hinein. Wenn man sich von den anderen ein bisschen absetzen will, gibt es nichts Beruhigenderes als den Abwasch. Man stellt sich pflichtbewusst und fleißig dar, und dabei ist das Spülen so entspannend wie ein Schaumbad. Im Moment fühlte ich mich sicher. Ich wäre damit zufrieden gewesen, die Wohnung nie wieder zu verlassen. Wäre es denn so falsch, für immer hier zu bleiben?, dachte ich. Ich konnte kochen und putzen lernen. Ich konnte Kleider bügeln (falls ich welche hatte). Vielleicht konnte ich nähen lernen und kunstgewerbliche Gegenstände aus Eiscremestielen anfertigen. Ich wollte nur nicht wieder hinaus. Die reale Welt weckte allmählich in mir die gleichen Gefühle wie Schwimmen im Ozean.
Vor der Küste bei Santa Teresa ist das Wasser des Pazifiks trüb und kalt und voll unbekannter, beängstigender Dinge, an denen man sich verletzen oder infizieren kann: Organismen aus Gallerte und Schleim, Krustentieren mit Stacheln und hornigen Zangen, die einem die Kehle herausreißen können. Mark Messinger war so: bösartig, unnachgiebig, tot im Herzen.
Henry ging um zehn. Dietz schaltete den Fernseher ein und wartete auf die Nachrichten, während ich wieder ins Bett kroch. Ich wurde nachts zweimal wach und sah auf die Uhr; einmal Viertel nach eins und dann wieder fünf nach halb drei. Unten brannte Licht, und ich wusste, dass Dietz noch wach war. Schlafmangel schien für ihn ein Lebenselixier zu sein, ich hingegen kann nie genug Schlaf kriegen. Das Licht, das zu mir heraufdrang, war von einem heiteren Gelb. Jeder, der es auf mich abgesehen hatte, bekam es zuerst mit ihm zu tun. Beruhigt schlief ich wieder ein.
Trotz meiner Angst schlief ich verhältnismäßig gut und erwachte mit einer Spur meiner alten Energie, die fast so lange anhielt, bis ich hinunterging. Dietz war noch unter der Dusche. Ich überzeugte mich, dass die Haustür abgeschlossen war und überlegte, ob ich vor dem Badezimmer herumlungern und ihm beim Singen zuhören sollte, befürchtete jedoch, er könnte mich dabei ertappen und es vielleicht übel nehmen. Ich brühte eine Kanne Kaffee auf, stellte die Milch, die Packung mit den
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