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Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Titel: Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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fahren, wundern sie sich vermutlich, daß ihnen die Reise doch nicht die Erholung gebracht hat, die sie sich erhofft hatten.
    Jaffe und seine Freundin lagen nicht an ihrem gestrigen Platz. Ein anderes Pärchen hatte ihn ihnen offenbar weggeschnappt. Wieder beschäftigte sich Jaffe mit den neuesten Zeitungsnachrichten in englischer und in spanischer Sprache. Meine Gegenwart wurde kaum zur Kenntnis genommen, und ich achtete sorgfältig darauf, weder mit Jaffe noch der Frau Blickkontakt aufzunehmen. Ich fotografierte ab und zu und täuschte dabei brennendes Interesse an architektonischen Details, künstlerischen Perspektiven und Meeresansichten vor. Wenn ich das Objektiv auf irgend etwas in ihrer Nähe richtete, schienen sie es zu spüren und zogen sich zurück wie hochempfindliche Meerestiere.
    Sie bestellten sich den Lunch ans Becken. Ich verdrückte an der Bar ein paar gesunde Chips mit Salsa, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ich sonnte mich und las. Ab und zu ging ich zum seichten Ende des Pools und machte meine Füße ein bißchen naß. Selbst bei den drückenden Julitemperaturen erschien mir das Wasser eiskalt. Schon wenn ich bis zu den Waden hineinging, bekam ich Atemnot und verspürte ein dringendes Bedürfnis laut loszukreischen. Ich ließ in meiner Wachsamkeit erst ein wenig nach, als ich hörte, wie Jaffe für den folgenden Nachmittag einen Ausflug zum Hochseefischen verabredete. Wäre ich wahrhaft paranoid gewesen, hätte ich hinter diesem Ausflug vielleicht ein neuerliches Fluchtmanöver vermutet. Aber wovor mußte er jetzt noch fliehen? Mich kannte er nicht, und ich hatte ihm keinen Anlaß gegeben, gegen mich Verdacht zu schöpfen.
    Zum Zeitvertreib schrieb ich eine Ansichtskarte an Henry Pitts, meinen Hauswirt in Santa Teresa. Henry ist vierundachtzig Jahre alt und hinreißend: groß und schlank mit tollen Beinen. Er ist gescheit und gutmütig, wacher als ein Haufen Leute meiner Bekanntschaft, die halb so alt sind wie er. In letzter Zeit hatte es ihm ziemlich die Petersilie verhagelt, weil sein älterer Bruder William, der mittlerweile sechsundachtzig war, mit Rosie, der Ungarin, der die Kneipe um die Ecke gehörte, angebändelt hatte. William war Anfang Dezember aus Michigan eingetrudelt, um die Depressionen loszuwerden, die sich nach einem Herzinfarkt bei ihm eingestellt hatten. William war unter den besten Umständen eine Nervensäge, aber sein »Scharmützel mit dem Tod« — wie er es nannte — hatte seine unangenehmsten Eigenschaften verstärkt. Wie ich hörte, hatten Henrys andere Geschwister — Lewis mit siebenundachtzig, Charlie mit einundneunzig und Nell, die im Dezember vierundneunzig wurde — demokratisch abgestimmt und Henry in seiner Abwesenheit das Sorgerecht für William zuerkannt.
    Williams Besuch, ursprünglich für zwei Wochen geplant, hatte sich nunmehr auf sieben Monate ausgedehnt, und das hautnahe Zusammenleben begann seinen Tribut zu fordern. William, egozentrisch, hypochondrisch, zimperlich, launisch und bigott, hatte sich in meine Freundin Rosie vergafft, die ihrerseits autoritär, neurotisch, kokett, halsstarrig und knauserig war und nie ein Blatt vor den Mund nahm. Die beiden waren glückselig miteinander. Die Liebe hatte sie reichlich kindisch gemacht, und das war mehr, als Henry ertragen konnte. Ich fand es eigentlich ganz süß, aber was wußte ich schon!
    Ich unterschrieb die Karte an Henry und schrieb gleich noch ein paar sorgfältig überlegte spanische Zeilen an Vera. Der Tag erschien mir endlos; nichts als Hitze und Insekten und kreischende Kinder im Pool. Jaffe und seine Frau schienen es von Herzen zu genießen, in der Sonne zu liegen und sich braten zu lassen. Hatte sie denn noch nie jemand vor Falten, Hautkrebs und Sonnenstich gewarnt? Ich zog mich immer wieder in den Schatten zurück, viel zu ruhelos, um mich auf mein Buch zu konzentrieren. Jaffe benahm sich überhaupt nicht wie ein Mann auf der Flucht, sondern vielmehr wie jemand, der Zeit hatte wie Sand am Meer. Vielleicht empfand er sich nach fünf langen Jahren nicht mehr als Flüchtiger. Daß er amtlich tot war, davon wußte er nichts.
    Gegen fünf erhob sich wie gewohnt der viento negro. Auf dem Tisch knisterten Jaffes Zeitungen, einzelne Blätter schnellten in die Höhe wie hastig aufgezogene Segel. Die Frau grapschte gereizt nach ihnen und packte sie mit ihrem Badetuch und ihrem Sonnenhut zusammen. Sie schob ihre Füße in die Gummisandalen und wartete ungeduldig auf Jaffe. Der tauchte noch einmal ins

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