Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
sah ich, daß sie leicht lächelte. »Ich habe fünf Jahre lang mit dem Mann zusammengelebt und bin mit ihm gereist«, sagte sie. »Ich habe ihm alles gegeben, was er brauchte — Geld, einen Paß, Unterkunft, Unterstützung. Und wie dankt er es mir? Indem er zu seiner Familie zurückkehrt... indem er sich meiner so sehr schämt, daß er nicht einmal seinen erwachsenen Söhnen etwas von meiner Existenz sagt. Er hatte eine midlife crisis. Mehr war’s nicht. Und als er die überwunden hatte, wollte er zu seiner Frau zurück. Aber ich konnte ihn nicht an sie verlieren. Es war zu demütigend.«
»Aber Dana hätte ihn niemals zurückgenommen.«
»O doch. Sie nehmen sie immer zurück. Sie sagen, sie werden es niemals tun, aber wenn es dann soweit ist, können sie nicht widerstehen. Ich mache ihnen ja gar keinen Vorwurf daraus. Sie sind eben so gottverdammt froh und dankbar, wenn der liebe Ehemann endlich mit dem Schwanz zwischen den Beinen wieder angekrochen kommt. Dann ist es egal, was er getan hat. Wenn er nur zurückkommt und ihr sagt, daß er sie liebt.« Das Lächeln war erloschen, und sie begann zu weinen.
»Weshalb die Tränen? Er war es nicht wert.«
»Er fehlt mir. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber es ist so.« Sie öffnete den Gürtel und ließ den Mantel über ihre Schultern gleiten. Darunter war sie nackt, schlank und weiß, zitternd. Ein menschlicher Pfeil.
»Renata, nicht!«
Ich sah, wie sie sich umdrehte und in den brodelnden Ozean stürzte. Ich riß mir die Schuhe von den Füßen, schlüpfte aus meiner Jeans und zog mir das Sweatshirt über den Kopf. Mir war kalt. Ich war schon durchnäßt vom Sprühdunst, dennoch zögerte ich einen Moment. Unter mir, jetzt schon ungefähr zehn Meter weit draußen, sah ich Renata schwimmen. Systematisch durchschnitten ihre schlanken weißen Arme das Wasser. Ich hatte überhaupt kein Verlangen, ins Wasser zu gehen. Es sah so tief und kalt und schwarz und bedrohlich aus. Ich flog vorwärts, fühlte mich wie ein Vogel und fragte mich, ob es möglich war, für immer in der Luft zu bleiben.
Dann klatschte ich ins Wasser. Die Kälte raubte mir den Atem. Ich schnappte nach Luft und hörte erstaunt meinen eigenen Aufschrei. Der Wasserdruck erschwerte meiner Lunge die Arbeit. Ich holte tief Atem und begann zu schwimmen. Das Salz brannte mir in den Augen, aber ich konnte das Weiß von Renatas Händen und ihr Gesicht sehen, das wenige Meter vor mir auf dem Wasser schaukelte. Ich bin eine ganz ordentliche Schwimmerin, aber beileibe keine starke. Wenn ich längere Strecken schwimmen will, muß ich im allgemeinen von Stil zu Stil wechseln — Kraul, Seite, Brust, Ruhe. Der Ozean war lebhaft, beinahe natürlich verspielt, ein großer flüssiger Tod, eiskalt wie die Folter, unerbittlich.
»Renata! Warten Sie!«
Sie blickte zurück, allem Anschein nach überrascht, daß ich mich ins Wasser gewagt hatte. Beinahe aus Höflichkeit, wie es schien, schwamm sie ein wenig langsamer, so daß ich sie einholen konnte, ehe sie wieder loslegte. Ich war bereits ausgepumpt von der Anstrengung. Auch sie wirkte müde, und vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich auf die Verschnaufpause einließ. Einen Moment lang lagen wir beide schaukelnd im Wasser, das uns wie eine neuartige Attraktion in einem Vergnügungspark in die Höhe trug und wieder in die Tiefe zog.
Ich tauchte unter, kam mit dem Gesicht voraus wieder an die Oberfläche und strich mir das Haar aus den Augen. Ich wischte mir Mund und Nase ab und schmeckte Salz und Fisch.
»Was ist aus dem Geld geworden?«
Ich sah, wie sich ihre Arme im Wasser bewegten und die Bewegung sie dicht an der Oberfläche hielt. »Ich wußte nichts von dem Geld. Darum habe ich so gelacht, als Sie es mir gesagt haben.«
»Jetzt ist es weg. Jemand hat es genommen.«
»Ach, wen interessiert das schon, Kinsey? Wendell hat mir eine Menge beigebracht. Ich weiß, es klingt banal, besonders in so einem Moment, aber Geld macht nicht glücklich.«
»Aber es beruhigt doch ungemein.«
Sie lachte nicht einmal aus Höflichkeit. Es war ihr anzusehen, daß ihre Kraft nachließ, aber lange nicht in dem Maß wie meine.
»Was passiert, wenn Sie nicht mehr schwimmen können?« fragte ich.
»Oh, ich habe mich kundig gemacht. Ertrinken ist gar kein so schlechter Tod. Natürlich tritt ein Moment der Panik ein, aber danach ist es die reine Euphorie. Man gleitet einfach in den Äther hinüber. Es ist wie einschlafen, nur daß man dabei noch angenehme
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