Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
Aufzeichnungen, Korrespondenz, Telefonnummern, ein Tagebuch, ein Adreßbuch. Alles konnte weiterhelfen. Aber sie hatte die Wahrheit gesagt. Er hatte das Haus ausgeräumt. Ich konnte nur mit den Achseln zucken. Es hätte ja sein können, daß ich auf ein phantastisches Geheimnis gestoßen wäre.
Ich ging die Treppe hinunter und schlich leise durch das Wohnzimmer. Renata öffnete die Augen, als ich am Sofa vorbeikam.
»Haben Sie was gefunden?« Alkohol und Schlaftrunkenheit verzerrten ihre Worte.
»Nein. Aber es war einen Versuch wert. Kommen Sie zurecht?«
»Sie meinen, wenn ich mich erst von der Demütigung erholt habe? Aber ja, ich komme zurecht.«
Ich machte eine kleine Pause. »Ist Wendell eigentlich je von einem Mann namens Harris Brown angerufen worden?«
»O ja. Harris Brown hinterließ eine Nachricht, und Wendell rief ihn zurück. Sie haben sich am Telefon gestritten.«
»Wann war das?«
»Ich weiß nicht mehr. Vielleicht gestern.«
»Worüber haben sie gestritten?«
»Das hat Wendell mir nicht gesagt. Er scheint mir vieles nicht gesagt zu haben. Wenn Sie ihn finden, dann sagen Sie es mir nicht. Ich denke, ich lasse morgen die Schlösser auswechseln.«
»Morgen ist Sonntag. Das wird teuer.«
»Dann eben heute. Heute nachmittag. Sobald ich aufstehe.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen.«
»Ein bißchen Gelächter brauche ich«, sagte sie.
25
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Harris Brown wohnte in einer kleinen Siedlung in Colgate, ein Sträßchen schäbiger kleiner Häuser auf dem Steilufer über dem Pazifik. Acht Häuser insgesamt zählte ich. In einer schmalen, von Eukalyptus beschatteten Schotterstraße. Holzverschalung, spitze Giebeldächer mit Dachgauben und vorn Veranden, dahinter Fliegengitter. Es waren wahrscheinlich die Leutehäuser eines einst großen Besitzes gewesen, von dessen Glanz heute nichts mehr übrig war. Im Gegensatz zu den Nachbarhäusern, die pinkfarben und grün gestrichen waren, war Harris Browns Haus — nun ja, eben braun. Es war schwer zu sagen, ob das Anwesen von Anfang an heruntergekommen war oder ob der allgemein verwahrloste Zustand eine Folge seines Alleinlebens als Witwer war. Sexistisch wie ich bin, konnte ich mir nicht vorstellen, daß es so ausgesehen hätte, wenn eine Frau hier gelebt hätte. Ich stieg die wenigen Stufen zur Veranda hinauf.
Die Haustür stand offen. Die Fliegengittertür schien verriegelt zu sein. Ich hätte sie mit einem Taschenmesser öffnen können, aber ich klopfte lieber. Aus einem Radio in der Küche schmetterte klassische Musik. Ich konnte ein Stück der Arbeitsplatte sehen und braun-weiß-karierte kurze Gardinen über dem Spülbecken. Ich roch gebratenes Hühnchen und hörte das Zischen und Brutzeln des Bratfetts. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.
»Mr. Brown?« rief ich.
»Ja, hallo?« rief er zurück. Er erschien an der Küchentür. Er hatte ein Handtuch um den Bauch gebunden und eine Vorlegegabel in der Hand. »Oh! Augenblick!«
Er verschwand, stellte wahrscheinlich die Flamme unter dem Hühnchen kleiner. Wenn er mir nur einen Happen anbieten würde, dann konnte er meinetwegen angestellt haben, was er wollte. Erst das Essen, dann die Gerechtigkeit.
Er legte offenbar einen Deckel auf die Pfanne, denn das Zischen war plötzlich nur noch gedämpft zu vernehmen. Dann wurde auch das Radio leiser, und gleich darauf kam er, sich die Hände an einem Handtuch wischend, zur Tür. Ich hatte das Licht hinter mir. Er würde also ziemlich nah herankommen müssen, um mich klar zu sehen.
Er spähte durch das Fliegengitter. »Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag. Erinnern Sie sich an mich?« fragte ich. Ich dachte, daß er zu lange Polizeibeamter gewesen war, um ein Gesicht zu vergessen, wenn er sich in meinem Fall wahrscheinlich auch nicht mehr erinnern konnte, woher er mich kannte. Die Tatsache, daß wir uns erst kürzlich am Telefon unterhalten hatten, würde zusätzlich Verwirrung stiften. Wenn meine Stimme ihm bekannt vorkam, so würde er sie dennoch sicher nicht mit der Frau auf dem Hotelbalkon in Viento Negro in Verbindung bringen.
»Vielleicht können Sie mein Gedächtnis auffrischen.«
»Kinsey Millhone«, sagte ich. »Wir waren neulich zum Mittagessen verabredet.«
»Richtig, richtig! Entschuldigen Sie. Kommen Sie rein.« Er öffnete die Fliegengittertür und hielt sie mir auf. Mit scharfem Blick musterte er mich. »Wir kennen uns doch? Irgendwoher kenne ich Ihr Gesicht.«
Ich lachte verlegen. »Aus Viento Negro. Auf dem
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